Lichtspiele
- 7. Juni 17
- 20–23 Uhr
- Bob’s Pogo Bar
Bitte melden Sie sich im Voraus unter bobspogobar@kw-berlin.de an.
Betreten auf eigene Gefahr.
Ellen Cantor: Pinochet Porn
Filmvorführung
„Als ich fast verrückt vor Kummer mit einer handgezeichneten Clownsmaske durch Teneriffa spazierte, wurde mir klar, dass ich nicht länger gefahrlos auf die Liebe als Inspirationsquelle zurückgreifen konnte. Sieben Jahre lang war er meine Muse gewesen, nun musste ich meine gesamte künstlerische Praxis überdenken.
Ich überlegte, was mich ansonsten hinreichend interessierte, um mein Leben auszufüllen – vielleicht meine Freundschaften. Ich dachte viel an meine Freundin Deborah Drier, eine ganz hervorragende Autorin, Redakteurin und Modediva; sie hatte gerade eine doppelte Lungentransplantation und einen Eingriff am offenen Herzen hinter sich. Ich fragte mich, welche Aspekte unseres Lebens überhaupt freie Entscheidungen sind. Ist die Tragödie eine freie Entscheidung? Wie hatte Deborahs Kindheit ausgesehen, die Kindheit eines Wunderkinds, das 1948 in Queens geboren worden war?
Ich dachte darüber nach, wie die Traumata unserer Kindheit spätere Traumata in unserem Leben als Erwachsene hervorbringen, von den größten historischen Katastrophen bis zu den intimsten persönlichen Missgeschicken. Und mir wurde klar, wie wenig ich über meine Freunde, ihre Kindheit und Familiengeschichte wusste, nur ein bisschen aus vertraulichen Gesprächen, Geschichten, Klatsch und Tratsch, aber im Grunde nicht viel.
Ich machte mich an eine Reihe von Zeichnungen, die mit meiner besten Freundin zu tun hatten; sie war in Südamerika aufgewachsen und führte ein ganz außergewöhnliches Leben. Ich merkte, ich konnte meine eigenen unverarbeiteten Emotionen durch ihre Geschichten in bestimmte Bahnen lenken. Diese Zeichnungen mit dem Titel Circus Lives from Hell erzählen die epische Geschichte von fünf Kindern, von ihrer Jugend unter dem Pinochet-Regime und ihrem Leben als Erwachsene. Sie alle haben die Diktatur auf ganz unterschiedliche Weise erfahren, von den eineiigen Zwillingen des Diktators, Paloma und Pipa, die wie Prinzessinnen aufwachsen und denselben Mann heiraten, bis hin zu Jaime, der als Kind ins Exil geschickt wird, als seine Mutter ,verschwindet‘. Sie wurde ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und wurde schließlich wahnsinnig. Es ist eine Seifenoper – tragisch, komisch, fiktionalisiert und historisch. Die Zeichnungen mit ihren konkreten Geschichten und Dialogen sollten ein Filmskript ergeben, obwohl ich nie so genau wusste, wie dieser Film zustande kommen sollte.
Letzten Sommer machte ich eine Ausstellung bei Participant Inc. in New York und die zentrale Arbeit war dieses Storyboard. Die Leiterin der Galerie, Lia Gangitano, und ich hatten die Idee, mit Unterstützung einiger FilmemacherInnen während der Ausstellung einen Film in der Galerie zu beginnen und das Filmmaterial nach und nach unter die Zeichnungen zu projizieren. Mein Bruder, der im Bankwesen arbeitet, fand diesen Plan lächerlich und wollte mich auf den totalen Reinfall vorbereiten. Er meinte, niemand werde Zeit und Talent in die Arbeit eines anderen investieren, wenn er oder sie nicht dafür bezahlt würde – ich solle mal schön auf dem Boden bleiben!“
– Ellen Cantor, ‘Pinochet Porn in progress’, MAP Magazine #191, September, 2009
Ellen Cantor (1961-2013) war eine hoch angesehene feministische Künstlerin, die in den 1990er-Jahren im Bereich der zeitgenössischen Kunst an Bedeutung gewann. Sie leistete maßgebliche Beiträge auf den Gebieten Zeichnung, Videokunst, Film, Malerei, Skulptur, wie auch in dem Schreiben und Kuratieren von Ausstellungen und Filmvorführungen, womit sie sich Kritikerlob und Allbekanntheit einholte – besonders in ihren beiden Heimatstädten London und New York.
Während der letzten fünf Jahre ihres Lebens entwickelte Cantor den Langfilm Pinochet Porn (2008–16), eine Seifenoper-ähnliche Erzählung von fünf Kindern, die während des Pinochet Regimes aufgewachsen sind, und deren anschließenden Reifungsprozess hin zum Erwachsensein. Auf Super-8-Filmmaterial gedreht und posthum von den MitarbeiterInnen Cantors nach ihren Anweisungen fertig gestellt, ist Pinochet Porn ebenso ein Porträt eigener Erfahrungen in Hinblick auf Sexualität, Liebe und Freundschaft, wie auch die Erkundung einer Welt, die von Kolonialismus, Faschismus und Terrorismus geplagt ist.
Pinochet Porn erscheint mit freundlicher Genehmigung von The Ellen Cantor Estate in Zusammenarbeit mit dem Institute of Contemporary Arts (ICA), London. Mit besonderen Dank an Mark Cantor, Lia Gangitano und Steven Cairns.
Das Künstlerhaus Stuttgart zeigt Pinochet Porn am 3. Juni, 19 Uhr mit neuen deutschen Untertiteln, gefolgt von Screenings mittwochs–sonntags 4. Juni–30. Juli, jeweils 12 und 16 Uhr. Für mehr Informationen besuchen Sie bitte die Website.