morale provisoire Gespräch #2: Christoph Menke. Wie frei urteilen?

 

 

6. April 10

 

 

morale provisoire Gespräch #2
Christoph Menke: Wie frei urteilen?
06.04.2010, 19 Uhr

Die Aufklärung ist das Projekt, das Urteilen zu subjektivieren, Subjekte des Urteilens zu schaffen: das Urteilen von einem anonymen oder objektiven Geschehen in einen autonomen Akt zu verwandeln, den das Subjekt in eigener Verantwortung, weil in methodisch-kontrollierter Schrittfolge, vollzieht.
Die Tragödie ist die Erfahrung, dass das Urteilen sich von den Bedingungen losreißt, an die das Subjekt es zu binden versucht, und sich – wie die Fluchgewalt, mit der es bricht – verselbständigt. Das Urteilen ist exzessiv: Es zerstört das Leben des Subjekts, das sich durch seine Urteile selbst zu führen versucht.
Die Ästhetik ist, in Theorie und Praxis, der Versuch, dem Gegensatz von Aufklärung und Tragödie, Autonomie und Schicksal zu entkommen. Die Ästhetik denkt die Freiheit des Urteilens so, dass sie die Freiheit vom Urteilen enthält. Der Gedanke der Ästhetik ist: Nur ein Urteilen, das so frei ist – und damit nicht mehr der autonome Akt des Subjekts –, kann die Gewalt des Urteilens entsetzen.

Christoph Menke ist Inhaber des Lehrstuhls für praktische Philosophie am Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ und am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Philosophie (Freiheit und Normativität, Demokratie und Gleichheit), Rechtstheorie (Menschenrechte, subjektive Rechte), Ästhetik (Tragödie und Theater) und Theorie der Subjektivität (Geist und Natur, Fähigkeiten und Handeln). Zuletzt ist von ihm die Monographie Kraft. Ein Grundbegriff der anthropologischen Ästhetik (Frankfurt/Main, 2008) erschienen.

Im Anschluss an den Vortrag findet ein Gespräch mit Christoph Menke, Frank Ruda und Jan Völker statt.
Die Veranstaltung findet in deutscher Sprache statt. Der Eintritt ist frei.

morale provisoire Gesprächsreihe
Descartes gibt das Beispiel der Reisenden, die in einem Wald die Orientierung verloren haben. Wollen sie nicht an der gleichen Stelle verharren oder aber orientierungslos umherirren, benötigen sie eine "morale par provision", die ihre Schritte anleitet. Eine "morale provisoire" versucht entschlossen eine Richtung zu verfolgen, sie befragt das Denken auf orientierende Regeln für die Praxis. Sich im Denken zu orientieren, heißt mit Kant, sich nach dem subjektiven Prinzip der Vernunft zu orientieren. Dies bedeutet dann, wie Rousseau, zunächst das beiseite zu lassen, was als Tatsache gilt: das Bestehende, seien es Körper oder Sprachen, Individuen oder Gemeinschaften, das die Maximen der Zeit heute preisen. Ihnen setzt Badiou die Idee einer subjektiven Orientierung des Subjekts entgegen, die von einem Punkt der Unmöglichkeit aus ihren Weg nimmt. Die Reihe morale provisoire richtet sich gegen Libertäre, Liberale, Sophisten und Sozialchauvinisten unserer Zeit und versucht, orientierende Interventionen für die Praxis und das Denken zu versammeln. Sie zielt auf einen neuen Mut des Denkens, der dem Unmöglichen, dem Unendlichen, dem Gleichen und dem Illegitimen sein Recht zuspricht. Morale provisoire ist an einem Jakobinismus des Denkens orientiert, der auf seinem Weg aus der Desorientierung seine Feinde je neu bestimmt.

In der morale provisoire Gesprächsreihe werden in unregelmäßigen Abständen militante Denker eingeladen, deren Arbeiten in einem Bezug zu den Fragen der morale provisoire gelesen werden können. Mit den Gesprächspartnerinnen und –partnern soll erläutert werden, inwiefern und ob eine "morale provisoire" heutzutage als Konzept des Denkens – und darüber des alltäglichen Handelns – möglich und nötig ist oder aber nicht. Wie sind in einer Zeit, die sich als Zeit der allgemeinen Desorientierung begreifen lässt, subjektive Orientierungen möglich? Inwiefern lässt sie sich als Zeit der Desorientierung verstehen? Welche Mittel der Analyse stehen uns zu Verfügung? Inwiefern müssen subjektive Orientierungen von Unmöglichkeit der Situationen ausgehen? Wie sind solche Punkte zu beschreiben, was sind ihre Bedingungen und Voraussetzungen? Was wären Figuren, Punkte, Mittel und Methoden einer solchen "morale provisoire" und wo und wie erkennt sie ihre Feinde? Wie orientiert man sich weniger an Beschreibungen der Desorientierung denn an Analysen unmöglicher Ausgangspunkte neuer Wege und Formen? Die eingeladenen Gäste sind nicht Philosophen allein, sondern Freunde, deren Arbeiten um eine oder mehrere Bedingungen der Philosophie zirkulieren – Kunst, Liebe, Politik, Wissenschaft.
Die Gesprächsreihe morale provisoire in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin erweitert eine gleichnamige Buchreihe im Merve Verlag, die von Frank Ruda und Jan Völker herausgegeben wird. In Zusammenarbeit mit dem Verlag und den Herausgebern verpflichtet sie sich in regelmäßigen Abständen der zeitgenössischen Dringlichkeit Orientierungen in Fragen der Wissenschaft, Politik, Kunst und Liebe zu versammeln und ihre Einsätze auf dem Feld der Philosophie zu bestimmen.
Projektleitung KW Institute for Contemporary Art: Anke Schleper