Kuratorische Einführung
Atiéna R. Kilfa
The Unhomely
22. Oktober 22 – 15. Januar 23

 

Kuratorin: Anna Gritz
Assistenzkuratorin: Sofie Krogh Christensen
Kuratorische Assistenz: Linda Franken

 

The Unhomely in den KW Institute for Contemporary Art ist die erste institutionelle Einzelausstellung von Atiéna R. Kilfa (*1990, FR). Anhand der Medien Fotografie, Skulptur, Video und Installation untersucht Kilfa die Kollision und Überschneidung persönlicher mit kultureller Erinnerung. Die aktuellen Arbeiten der Künstlerin resultieren aus ihrem Interesse an der Erstellung von Szenen, Dioramen, Stillleben und Tableaux vivants, die sie als Träger tradierter Narrative und sozialer Normen sowie der Spannung zwischen Subjekt und Objekt begreift und für eine kollektive Revision zur Debatte stellt.

 

Den Kern von Kilfas künstlerischer Praxis bildet die Frage, wie Standards Identität produzieren, sei es als nachzuahmende Modelle oder als technologische Settings, die unsere Wahrnehmung bestimmen – eine Untersuchung von Ein- und Ausschlüssen. Indem sie die binäre Trennung der subjektiven Innenwelt von der objektiven Umwelt aufbricht, stößt sie eine reflexive Überschreibung existierender Systeme und Standards an. In der Gegenüberstellung einer neu produzierten Videoarbeit mit Architekturfragmenten, interaktivem Klang und Skulptur erforscht The Unhomely Erinnerungen an ein „Zuhause“ als unmögliche „virtuelle“ Architektur. Erinnerung wird hier als Modus der Rückschau begriffen, der näher an der Wahrheit ist als andere dokumentarische Formen. Sie ist dehnbar und verwebt Ereignisse, Gefühle, Räume und Orte mit dem Imaginierten. Letztlich untersucht die Ausstellung, was ein Zuhause ist, wem es gehört und wer in ihm fremd ist. Bei dem Titel The Unhomely handelt es sich um eine wörtliche Übersetzung des Begriffs „das Unheimliche“ ins Englische, in der die Verbindung von Heimischem und Unheimlichem zutage tritt.

 

<p>Atiéna R. Kilfa, <em>The Unhomely</em>, 2022, Videostill (Beine). Courtesy die Künstlerin</p>

Atiéna R. Kilfa, The Unhomely, 2022, Videostill (Beine). Courtesy die Künstlerin

 

Inmitten einer immersiven Installation, die mit Maßstab und Proportion spielt, positioniert die auf einer architektonischen Bühne aus wiederverwerteten Dielen präsentierte Videoarbeit The Landlords (2022) die Betrachter*innen hinter der Kamera. Das Video, das sich wiederholende Sequenzen in einer Dauerschleife zusammenfügt, spielt in einem Treppenhaus, das als Huis clos erscheint. Die langsame, artifizielle Bewegung der Kamera erweckt den Eindruck, dass die Architektur sich um die Protagonist*innen herumbewegt, anstatt dass diese sich in ihr bewegen. Sie erscheint als flexible, zeitgebundene und formal instabile Einheit, die der Erinnerungsproduktion nicht nur einen Raum verschafft, sondern aktiv an ihr partizipiert. Darin unterscheiden sich Kilfas zu „architektonischen Geistern“ gewordene Protagonist*innen von den menschlichen Silhouetten, die in gängigen Architekturmodellen eine Vorstellung von räumlicher Tiefe und Maßstab vermitteln sollen. Sie werfen die Frage auf, wie etwas, das nie als etwas Lebendiges gedacht war, auf gespenstische Weise real erscheinen kann. Vor fünfzig Jahren entwickelte der japanische Robotiker Masahiro Mori die heute weithin anerkannte Vorstellung eines Uncanny Valley. Sie beschreibt einen Moment bei der Interaktion von Menschen mit humanoider Technologie, in dem uns die technologisch erzeugte Ähnlichkeit mit Menschen, allen Bemühungen zum Trotz, nicht überzeugt. Sobald wir die Diskrepanz zwischen Künstlichkeit und Authentizität erkennen, betreten wir einen unbehaglichen, angsteinflößenden Ort, der uns an unserer Wahrnehmung zweifeln lässt – das unheimliche Tal (Uncanny Valley). Dieses Phänomen tritt nicht nur bei der Nachahmung menschlicher Gestalten auf, sondern auch bei der von Räumen, Orten oder Klängen.

 

<p>Atiéna R. Kilfa, The Unhomely, 2022, Videostill (Frau starrt). Courtesy die Künstlerin</p>

Atiéna R. Kilfa, The Unhomely, 2022, Videostill (Frau starrt). Courtesy die Künstlerin

 

Kilfas Doppelung architektonischer Räume ist an Strategien angelehnt, die von Stanley Kubrick und Diane Johnson für den Film Shining (1980) entwickelt worden sind. Wie in Shining führt auch in der Installation von Kilfa ein Architekturmodell in den filmischen Raum ein. Die Miniatur erscheint im Film als reale Umgebung und lässt zugleich den physiologischen Raum vermissen. Diese Zusammenführung filmischer, architektonischer und gedanklicher Räume spiegelt sich sowohl in den Handlungsorten – Zuhause und Hotel, Bekanntes und Fremdes ­– als auch in der Gegenwart des*der „Anderen“ wider: Beide seien auf Grabstätten amerikanischer Ureinwohner*innen erbaut worden. Kilfas Film zieht Referenzen zum Zuhause der Künstlerin und bedient sich Motiven aus ihrer vom Kino geprägten Erziehung und Kindheit. Die Rolle des*der „Anderen“ im europäischen Kino der 1970er-Jahre wurde durch Kilfas Mutter thematisiert, eine Filmwissenschaftlerin, die ihr die Thematik unter anderem durch die Filme von Jean Rouch näherbrachte. Ähnlich wie in der Auto- und Ethnofiktion werden Szene und erzählerisches Selbst auch in diesem Film zu einem sozialen Prozess, bei dem die Protagonist*innen die Szenen wie lebendige Skulpturen bewohnen. Ihre Rollen bleiben jedoch dabei vage – sie können als Mutter, Witwe, Nachbarin oder Vermieterin und als Bruder, Vater, Nachbar oder Vermieter gelesen werden. Sie sind Geister, die durch eine Erinnerung spuken, und zugleich von erlebtem Trauma hervorgerufene Projektionen.

 

Atiéna R. Kilfa lässt die Betrachter*innen häufig an der Produktion ihrer Arbeiten teilhaben. Sie nutzt filmische Konventionen, um ein immersives Zuschauen zu unterlaufen und das Publikum stattdessen mit den technischen Produktionsbedingungen des Films zu konfrontieren. Digitale Produktionsmittel wie farbliche Verfremdung, Bearbeitung des Lichts, Entfernung von Details und Verschiebung des Kamerafokus, aber auch Casting und Maske, machen die Gewalt sichtbar, die Teil der (filmischen) Aufzeichnung ist. Die Rolle der Betrachter*innen bei der Produktion der Arbeit wird durch zwei weitere Elemente verdeutlicht: Die maßstabsgetreue Miniatur des im Film gezeigten Treppenhauses, die den Titel Déja Vu (2022) trägt, erscheint als illusorische Nachbildung. Sie lässt uns mit dem irritierenden Wunsch zurück, die eigene Position mit jenen des Films und des Modells zu vergleichen. Kilfas mit 4th Floor (2022) betitelte architektonische Bühne, die einen Großteil des Raums einnimmt, zitiert sowohl Film als auch Modell. Sie dient als Foley-Instrument, das die Arbeit um eine akustische und räumliche Dimension erweitert und das Publikum miteinbezieht, indem es auf dessen Bewegungen mit Klang reagiert. Unter Foley versteht man normalerweise die Nachvertonung in der Postproduktion eines Films, bei der Alltagsgeräusche zur Verbesserung der Tonqualität durch Studioaufnahmen ersetzt werden. Hier hingegen möchte die Methode zeigen, wie das Kino sich künstlicher Hilfsmittel bedient, um ein Zuhause zu schaffen, das in seiner Präsenz spürbar ist, aber nicht als selbstverständlich gelten kann.

 

<p>Atiéna R. Kilfa, <em>The Unhomely</em>, 2022, Videostill (Geländer I). Courtesy die Künstlerin</p>

Atiéna R. Kilfa, The Unhomely, 2022, Videostill (Geländer I). Courtesy die Künstlerin

 

Künstlerinnenbiographie

Atiéna R. Kilfa wurde 1990 in Paris, Frankreich, geboren. Sie lebt und arbeitet derzeit in Frankfurt am Main, wo sie kürzlich ihren Abschluss an der Staedelschule gemacht hat. In ihrer künstlerischen Praxis untersucht Kilfa anhand der Medien Fotografie, Skulptur, Video und Installation die Kollision und Überschneidung persönlicher mit kultureller Erinnerung. The Unhomely in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin ist ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Eine abgewandelte Version der Ausstellung wird Anfang 2023 im Camden Arts Centre in London zu sehen sein.

 

Impressum

Kuratorin: Anna Gritz

Assistenzkuratorin: Sofie Krogh Christensen

Kuratorische Assistenz: Linda Franken

Produktionsleitung: Claire Spilker

Technische Leitung: Wilken Schade

Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger

Aufbauteam: KW Aufbauteam

Registrarin: Monika Grzymislawska

Assistenz Registrarin: Carlotta Gonindard Liebe

Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum  

Programmkoordination & Outreach: Nikolas Brummer

Presse und Kommunikation: Marie Kube, Anna Falck-Ytter

Text und Redaktion: Anna Gritz

Übersetzung und Lektorat: Lutz Breitinger, Tina Wessel, Simon Wolff

Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble

Praktikantinnen: Pauline Hagen, Janika Jähnisch, Luisa Schmoock, Fangrong Tian

 

<p>Die Ausstellung <em>The Unhomely</em> von Atiéna R. Kilfa entsteht in Partnerschaft mit dem Camden Art Centre in London, wo die Ausstellung in abgewandelter Form von 27. Januar bis 26. März 2023 zu sehen sein wird.</p>

 

Die Ausstellung The Unhomely von Atiéna R. Kilfa entsteht in Partnerschaft mit dem Camden Art Centre in London, wo die Ausstellung in abgewandelter Form von 27. Januar bis 26. März 2023 zu sehen sein wird.

 

<p>Die Ausstellung wurde mit freundlicher Unterstützung von Trampoline Association in support of the French art scene, Paris, realisiert.</p>

 

Die Ausstellung wurde mit freundlicher Unterstützung von Trampoline Association in support of the French art scene, Paris, realisiert.

 

<p>Mit Unterstützung des Institut français Deutschland / Bureau des arts plastiques und der Galerie Neue Alte Brücke, Frankfurt am Main</p>

 

Mit Unterstützung des Institut français Deutschland / Bureau des arts plastiques und der Galerie Neue Alte Brücke, Frankfurt am Main