Kuratorische Einführung
BPA// Exhibition 2023
Amid the Alien Corn
25. November 23 – 7. Januar 24
Künstler*innen: Johannes Büttner (in Kollaboration mit Julian Vogel), Grayson Earle, Heyon Han, Sebastian Jefford, Ida Lawrence, Maness, Simone Miné Koza, Bassem Saad, Tian Guoxin, Jasmin Werner
Die KW Institute for Contemporary Art und das BPA// Berlin program for artists freuen sich, die Ausstellung BPA// Exhibition 2023 – Amid the Alien Corn zu präsentieren. Zu sehen sind Arbeiten, die von den Teilnehmer*innen des zweiten BPA//-Jahrgangs im Rahmen des Programms produziert wurden. Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Stockwerke im Vorderhaus sowie über die Fassade der KW.
Zwischen den in der BPA// Exhibition 2023 – Amid the Alien Corn verhandelten Sphären –Fiktion, Fantasie, Wahrheit und Digitalität – macht sich in der Schau eine Spannung bemerkbar. Zwar beschäftigen sich die präsentierten Künstler*innen mit verschiedenen Welten und Techniken, doch haben sie den Fokus auf das Erzählerische gemeinsam, wobei sie sich vom konventionellen Storytelling weg bewegen. Stattdessen schöpfen die Künstler*innen aus Schattenwelten, dem Poetischen und dem Künstlichen und spüren Momente auf, in denen sich die verführerischen Mythen des Kapitalismus und andere vorherrschende Machtstrukturen in ihren eigenen Netzen zu verfangen scheinen. Der Titel der diesjährigen Ausstellung, Amid the Alien Corn, ist Ursula K. Le Guins Essay The Carrier Bag Theory of Fiction (1986) entnommen. Darin spricht sie sich für eine Abkehr von linearen, das Heldentum und den Fortschritt feiernden Erzählungen aus. Die Schau nimmt Guins eigentümlichen Realismus zum Ausgangspunkt, um die in den verschiedenen Arbeiten enthaltenen Gegen-Erzählungen und Möglichkeiten des Worldbuildings zu reflektieren. Sie vereint eine Vielfalt komplexer, verzerrter und spekulativer Realitäten zusammen und blickt auf die Künstler*innen selbst als Erzählende.
Johannes Büttner, Grayson Earle, Heyon Han, Simone Miné Koza, Tian Guoxin und Jasmin Werner unterwandern in ihren Arbeiten Kreisläufe, etwa durch das Hacking digitaler Ökosysteme und das Stören der darin fließenden Finanzströme oder das Aufdecken von Verschwörungstheorien. Indem sie die Utopien und Dystopien von Tech-Kapitalismus und Konsumismus verweben und verdrehen, verflechten sie Welten miteinander, die wir eben noch für getrennt hielten, und machen so auf versteckte Abhängigkeitsverhältnisse aufmerksam. Sie locken uns mit einem alternativen Universum, in dem queere und nicht-normative Existenzen möglich sind.
Sebastian Jefford, Ida Lawrence, Maness und Bassem Saad beschäftigen sich mit der Bewegung von Körpern durch gegebene und mitunter hinderliche Strukturen. Ausgehend von einer Vorstellung von Raum als einer semantischen Machtarchitektur, die über Zugänge und Ausschlüsse entscheidet, beugen und verwandeln sie reale und fiktive Orte auf poetische Weise, um das fluide Selbst und sein schöpferisches Potenzial greifbar zu machen.
Die Schau gibt sich gleichermaßen als Ort der Transzendenz und des verpassten Entkommens und zeichnet so das brüchige Bild einer idealisierten Zukunft.
Zur Ausstellung erscheint eine Essay-Sammlung, für die jede*r Künstler*in eine*n Autor*in eingeladen hat, um über ihre jeweilige künstlerische Praxis zu schreiben. Sie ist im KW Bookshop erhältlich. Zudem gibt ein Begleitprogramm mit Führungen von Künstler*innen Einblicke in deren Schaffensprozesse.
Die Partnerschaft der KW Institute for Contemporary Art und des BPA// Berlin program for artists besteht seit 2020. BPA// ist eine von Künstler*innen geführte Organisation. Sie wurde 2016 von Angela Bulloch, Simon Denny und Willem de Rooij gegründet. Im Mittelpunkt des Programms stehen gegenseitige Studiobesuche der Teilnehmer*innen und Mentor*innen. Außerdem finden im Rahmen des Programms öffentliche Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit von Künstler*innen betriebenen Projekträumen und etablierten Institutionen statt. Jedes Jahr wählen die Mentor*innen des BPA// zehn der vielversprechendsten Nachwuchskünstler*innen Berlins für das zweijährige Programm aus. Die Teilnahme ist kostenlos und beinhaltet die Unterstützung der Produktion neuer Arbeiten.
Künstler*innen
Johannes Büttner, Platform, Literaturhaus Berlin 2022 in Kollaboration mit Steffen Köhn, Produziert mit Unterstützung von BPA// Berlin program for artists, Foto Phil Dera. Courtesy der Künstler.
Johannes Büttner (* 1985, DE)
MedBed, 2023
Verschiedene Materialien, produziert in Zusammenarbeit mit Benjamin Zuber (3D-Modeling), Grayson Earle (Programmierung), Grete Gehrke (Polsterung) und Johannes Klingebiel (Ton)
150 × 120 × 240 cm
Johannes Büttner und Julian Vogel
Gold, 2023
Video, Ton
30 Minuten
Videoschnitt: Ginés Olivares, Sebastian Winkels
Untertitel: Nicklas Bauske
Mit Gold setzt Johannes Büttner seine Langzeitrecherche zu den gegenwärtigen sozioökonomischen Strukturen, neoliberaler Ideologie und ihr Widerspiegeln in Verschwörungserzählungen fort. Gemeinsam mit dem Dokumentarfilmer Julian Vogel entsteht ein intimes und unheimliches Porträt eines Vertreters des „Libertären Autoritarismus“ (Amlinger und Nachtwey), oft als „Querdenker“ bezeichnet. Dies weist ein deutlich komplexeres und facettenreicheres Persönlichkeitsbild auf, als es die liberale Linke zu wissen meint.
Die Arbeit MedBed ist von dem Mythos eines medizinischen Geräts inspiriert, das angeblich alle Krankheiten heilt und sogar das Leben verlängern soll. Jenseits der Trope des Betts als einem Ort des Ausruhens, an dem man nicht produktiv sein muss, träumt dieser Mythos eine Liege herbei, die zu grenzenloser Optimierung und Weiterentwicklung des Menschen führt. Dieser ist insbesondere in der US-amerikanischen QAnon-Bewegung virulent, die behauptet, medizinische Betten würden von Elite-Mitgliedern eines „Deep State“ benutzt. Dargestellt werden sie oft anhand von Material aus Science-Fiction-Filmen wie Elysium (2013). In Büttners skulpturaler Paraphrase nimmt das Bett einen düsteren, sardonischen Charakter an: Einprogrammiert in den Algorithmus von Gold wiegt sich die Skulptur im Rhythmus des Films, wie die Puppe an den Fäden des Puppenspielers, und wird somit zum Protagonisten der Inszenierung.
Johannes Büttner wollte als Kind Müllmann, Schreiner, Werber oder Wrestler werden. 2023 war er Artist-in-Residence bei Los Angeles in Günsterode, Deutschland. 2024 begibt er sich mit einem Stipendium der Hessischen Kulturstiftung auf Reisen, um die libertäre Ideologie und Free Private Cities zu erforschen.
Julian Vogel hat Dokumentarfilme gemacht, wie TILMAN IM PARADIES (2011) über eine Person, die sich in eine Prostituierte verliebt, PALAST (2013) über ein Wohnprojekt und BILDER VOM FLO (2016) über den verstorbenen Vater seines besten Freundes. Seine jüngste Arbeit, die Trilogie EINZELTÄTER (2023), porträtiert Überlebende rechter Anschläge in München (2016), Halle (2019) und Hanau (2020).
Grayson Earle, Why don’t the cops fight each other?, Screenshot, 2022. Courtesy der Künstler
Grayson Earle (* 1987, US)
Why don’t the cops fight each other?, 2022
Video, Ton
9:42 Minuten
cop stuff, 2023
Heliumballons, Taubenstachel, Barrikaden
Maße variabel
In seiner Arbeit Why don’t the cops fight each other? decodiert Grayson Earle versteckte politische Strukturen im Videospiel Grand Theft Auto V. Die Desktop-Dokumentation führt uns hinter die Kulissen des Spiels, wo Earle in einer forensischen Erkundung Schritt für Schritt den Versuch unternimmt, den Quellcode umzuschreiben, um Polizisten – demoralisiert in ihrer Rolle – gegeneinander kämpfen zu lassen. Dank des Open-Source-Prinzips des Spiels kann die Modding-Community alle Figuren programmieren und etwa Fähigkeiten oder Regeln modifizieren – allerdings nicht im Fall der Polizisten. Der Versuch, die Machtdynamiken innerhalb der Polizei, insbesondere mit Blick auf den Mord an George Floyd im Jahr 2020 in den USA, zu kritisieren und den Polizeibeamten das Attribut Gewalt zuzuordnen, schlägt fehl. Dies wirft Fragen zur vermeintlich subversiven Haltung des Spiels in Bezug auf das Establishment auf, nicht nur im Umgang mit gewaltsamen Methoden, sondern auch, was policing in der Welt des Gaming betrifft. Earle fügt seiner Präsentation archetypische und spielerische Mock-ups hinzu, die Assoziationen mit der Exekutivmacht und den Aspekten von Sicherheit aufrufen. In diesem Set-up verlieren Heliumballons, Taubenstachel und Barrikaden ihren autoritären Charakter und nehmen jene politische Ambivalenz an, die auch das Spiel prägt.
Grayson Earle ist ein Künstler und Aktivist aus den USA. Seine Arbeit setzt sich mit der Rolle auseinander, die digitale Technologien und Netzwerke mit Blick auf Protestformen und politische Handlungsmacht spielen. Er ist bekannt für Guerrilla-Videoprojektionen, die er als Mitglied des Kollektivs The Illuminator realisiert, sowie für sein Projekt Bail Bloc, ein Computerprogramm, das einkommensschwachen Personen Kautionen zur Verfügung stellt.
Heyon Han, The mowing devil; In flavour future, Film Still, 2019. Courtesy die Künstlerin.
Heyon Han (* 1985, KR)
Flipping Hands / AI and Untitled Ceramics in a Drama Living Room, 2023
Wandtapete, Keramik, Video, Ton, 8:36 Minuten
Maße variabel
Die Arbeit Flipping Hands ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Verflechtung von Kapitalismus und kulturellem Ausdruck in koreanischen Produktionen von Dramen. In den vergangenen Jahrzehnten hat die koreanische Unterhaltungsindustrie, zu der auch die Phänomene K-Pop und K-Drama gehören, international an Strahlkraft gewonnen und ist
zu einem mächtigen Player im internationalen Kultursektor geworden. Das Genre Drama wurde bereits in der Zeit nach der Teilung Koreas als politisches Werkzeug eingesetzt und ist noch immer bekannt für seinen opulenten Mix aus westlichem Konsumkapitalismus (zum Beispiel durch Produktplatzierung) und der tief in der Landeskultur verwurzelten Tradition des Konfuzianismus sowie konservativen Werten.
Bestehend aus Keramikskulpturen, einem Video und einer Installation simuliert Flipping Hands ein Wohnzimmer und damit eine zentrale Trope des K-Dramas. Doch etwas scheint hier nicht zu passen: Die piktoralen Motive an der Wand wirken schmalzig, das Tongut und die Möbel erinnern an überdimensionierte Instant-Nudeln. Bei ihrer Recherche arbeitete Han mit KI-Bildgeneratoren, um die digitalen Landschaften des K-Dramas mit seiner glänzenden Künstlichkeit, vorhersehbaren Erzählstruktur, gefeierten Bildwelt und vertrauten Settings zu analysieren und kritisch zu reproduzieren. Dieses Geflecht verborgener Werte und Einflüsse schwimmt in derselben Suppe und bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche.
Heyon Han ist eine südkoreanische Künstlerin und lebt in Berlin. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg und an der Hongik University in Seoul, Korea. Ihre Arbeiten waren zuletzt in der Gruppenausstellung des Goldrausch-Künstlerinnenprojekts bei der Haubrok Foundation in Berlin zu sehen sowie 2019 beim Pixelache Festival Breaking the Fifth Wall in Helsinki, Finnland.
Sebastian Jefford, Irreconcilable differences (detail), 2023. Polyurethanschaum, Acrylfarbe, Kunststoff-Druckknöpfe, Plexiglas, Holz, Pappe, Isolierschaum, PVA-Kleber, 140 x 200 x 35 cm.
Sebastian Jefford (* 1990, UK)
Crustacean, 2023
Holz, Plexiglas, Metall, Aquarium-Sand, gefundene Notizen, Papier, Graphit
54 x 76 x 55 cm
Mollusc, 2023
Reptile, 2023
Amphibian, 2023
Holz, Plexiglas, Metall, Aquarium-Sand, gefundene Notizen, Papier, Graphit
60 x 50 x 60 cm
Irreconcilable differences, 2023
Polyurethan-Schaum, Acrylfarbe, Kunststoff-Druckknöpfe, Plexiglas, Holz, Pappe, Isolierschaum, PVA-Kleber
140 x 200 x 35 cm
Terraform, 2023
Acrylfarbe und Tinte auf Leinwand
40 x 40 cm
Sebastian Jeffords Praxis bewegt sich zwischen Skulptur, Malerei und Installation. Er setzt sich immer wieder mit Zeit und Geschichte als Glaubenssystem auseinander. Mit seiner Formsprache sowie in strukturellen und materiellen Erkundungen ruft er sowohl vertraute als auch befremdliche visuelle historische oder geologische Bezüge auf. Die Assemblagen Crustacean, Mollusc, Reptile und Amphibian sind vielzelligen tierischen Spezies und dem Zustand des Fossilen gewidmet. In transparenten Behältern, die an Kindertischen hängen, präsentiert Jefford gefundene Notizen, deren Ursprung und semantischen Gehalt er in diesen Kompositionen verfremdet. Die zusammengetragenen Objekte werden zu spekulativen Subjekten, die ihr eigenes Narrativ des Wordbuilding formen und die Möglichkeit von Fehlern, Missinterpretationen und schlicht Fiktionen enthalten. So wirft er grundsätzliche Fragen über die (visuellen) Codes und Wissenschaften auf, mit deren Hilfe wir zu kommunizieren versuchen. Gleichzeitig lenkt Jefford unsere Aufmerksamkeit auf die Flüchtigkeit des Menschseins und zeigt, wie vergangene Erinnerungen und Wahrnehmungen die Gegenwart bestimmen.
Sebastian Jefford ist ein walisischer Künstler und lebt in Berlin. 2017 schloss er sein Kunststudium an der Royal Academy of Arts in London ab. Zu seinen jüngsten Einzelausstellungen zählen The Living World of Animals bei Gianni Manhattan (Wien) und Sentiment, Sediment in der Galleri Opdahl (Stavanger).
Ida Lawrence, Fermented Feelings, Detail, 2021, Acryl auf Leinwand, 120 cm x 155 cm. Courtesy die Künstlerin.
Ida Lawrence (* 1988, AU)
Two for One, 2023
Acryl- und Ölfarbe auf Polycotton-Leinwand, Wandbild, auf Regalen präsentierte Objekte
Installation: 328 cm × 470 cm; Diptychon: je 180 cm × 120 cm
In ihren narrativen Gemälden kombiniert Ida Lawrence Bild und Text, um Geschichten von Verstehen und Missverstehen, Verbinden und Trennen, Großzügigkeit, Scheitern und Überraschung zu erzählen. Lawrences Bilderzählungen und Familiengeschichten aus Indonesien und Australien erstrecken sich über Leinwände oder, wie im Fall von Two for One, lebensgroß über Gemälde und Wandbilder.
In dieser Geschichte porträtiert Lawrence den Ladenbesitzer Norm und thematisiert dessen Rolle in der örtlichen Community. Norm plaudert gerne mit seinen Kund*innen, wobei er, wenn auch ungefragt, gut gemeinte Ratschläge verteilt. Two for One widmet sich den latenten Mechanismen, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Zusätzlich zu den ausgestellten Arbeiten präsentiert Lawrence ein Gespräch zwischen ihr und Norman Musung, der sie zu dieser Geschichte inspirierte. Anhand von Fragen dazu, wie es sich anfühlt zur Figur einer Erzählung gemacht zu werden, und wie der*die Protagonist*in ihre*seine eigene Geschichte erzählen würde, reflektieren sie über Lawrences Methodik. Die beiden schöpfen aus ihrer langen Bekanntschaft, schwelgen in Erinnerungen an einen mittlerweile geschlossenen Laden im Zentrum Sydneys, befragen sich gegenseitig und sinnieren über die Themen von Two for One.
Ida Lawrence lebt in Berlin und lässt sich durch ihre gemalten Geschichten nach Indonesien und Australien versetzen. Ihre Einzelausstellung Basa-Basi / Chit-Chat war in der ISA Art Gallery at Art SG 2023 zu sehen. Im Jahr 2020 zeigte Urban Spree in Berlin ihre größte gemalte Geschichte auf einer 8 x 15 Meter großen Wand. Sie erhielt die Marten Bequest Scholarship for Painting und arbeitet derzeit an einer Publikation mit dem Titel Loose Translations.
Die ins Deutsche übersetzte Geschichte Two for One und weitere
Gespräche zwischen Norman Musung und Ida Lawrence (auf Englisch).
Maness, Paradisi, Video Still, 2023. Courtesy der Künstler.
Maness (* 1988, MX)
Paradisi, 2023
HD-Video, Ton
20 Minuten
Pe (Paradisi), 2023
Metall, Acrylglas, PLA-Filament, Federn, Glasaugen, Acrylfarbe
230 × 120 × 80 cm
Maness findet Inspiration in kinematografischen und theatralen Erzählformen. In seinem ersten und neu produzierten Video Paradisi bewegen wir uns sowohl durch Fiktives als auch durch Reales, mit dem Maness den ambivalenten Daseinszustand als Künstler in der kreativen, aber rauen urbanen Metropole Berlin beschreibt. Darin begleiten wir ihn auf dem Weg von seinem Studio vorbei an Orten, die für ihn von persönlicher Bedeutung sind, bis hin zu einem der zentralen Orte der Berliner Moderne: der Neuen Nationalgalerie. Er tritt in einem hybriden Kostüm auf – halb Paradiesvogel, halb Mensch –, mit dessen Schnabel Umgebungsgeräusche und Soundeffekte erzeugt werden. Die Stadt wird zur Bühne, auf der der Künstlervogel als Protagonist seines eigenen Lebens performt, stets auf der Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit, Relevanz und Trost. Zwischen der Hoffnung auf Erfolg und der Prekarität pendelnd, reflektiert die Arbeit existenzielle und kritische Fragen, mit denen sich Kulturproduzent*innen konstant auseinandersetzen: Wie verhalten sich Repräsentation, Außenwahrnehmung, Realität und Fiktion zueinander? Im Ausstellungsraum steht das lebensgroße Vogelkostüm metaphorisch für die Sehnsucht nach Identifikation und Freiheit.
Maness (Andrés Mora Balzaretti) ist ein mexikanischer Künstler und lebt in Berlin. Er studierte an der Kunsthochschule La Esmeralda und dem Cinematographic Training Center in Mexiko-Stadt. Er hat bei Studio Beta in Berlin ausgestellt und arbeitet derzeit an dem Filmprojekt Narrenschiff, das 2024 veröffentlicht werden soll.
Simone Miné Koza, Δ, 2023 (Videostill).
Simone Miné Koza (*1997, JP)
Δ, 2023
Ultra HD-Video, Film, Motion Graphics, Ton
8 Minuten
Ton: trngs
Performer*innen: Jung Min Lee, Rashiyah Elanga, Tú
Styling: Yi Li, bbysclaw
In ihren Videoarbeiten schafft sich Simone Miné Koza ihr eigenes, extensiv alternatives Universum, in dem Traum und Fiktion mit utopischen Fantasien verschmelzen. Die Dreikanal-3D-Animation Δ (delta) beschäftigt sich mit dem Übergang vom natürlichen zum digitalen Erbe. Eine fiktionale Spezies namens „Profiles“ verkörpert die letzte humanoide Generation, die in einer hyper-technologischen, aber schon vom Zerfall bedrohten Welt lebt. Ihre Organismen ernähren sich von geometrischen Codes, die sich aus menschlichen Daten ableiten. Die geometrischen Formen kreisen um sich selbst und verweisen auf den Wunsch, die organische Substanz des Körpers aufzulösen und sie in non-lineare und non-normative Formen der Existenz und Zeitlichkeit zu überführen – in ein rein digitales Bewusstsein. Koza schafft wechselfähige Identitäten für eine posthumane Ära und erkundet Möglichkeiten von irdischer Vergänglichkeit und digitaler Wiedergeburt, nach der sich rigide Identitätsformen auflösen und die einen Neustart im unsterblichen, queeren Spektrum suchen.
Simone Miné Koza ist eine französisch-japanische Videokünstlerin und lebt in Berlin. Ihre künstlerische Praxis speist sich aus ihrer Faszination für das Science-Fiction-Genre und dem experimentellen Umgang mit Motion Graphics. Mit ihrer mit popkulturellen Verweisen angereicherten Ikonografie lädt sie Betrachter*innen ein, hyper-technologische Welten zu erkunden.
Bassem Saad, Suppose that Rome is not a human habitation, 2022. Courtesy der Künstler.
Bassem Saad (* 1994, LB)
Suppose that Rome is not a human habitation #1, 2022
3D-Lentikulardruck auf Alu-Dibond
59 × 84 cm
Suppose that Rome is not a human habitation #3, 2022
3D-Lentikulardruck auf Alu-Dibond
59 × 84 cm
Bassem Saad und Maxi Wallenhorst
Fateless (Arbeitstitel), 2023
4K Ultra HD Einkanal-Video, Ton
19 Minuten
Bei den Arbeiten aus Bassem Saads fortlaufender Serie Suppose that Rome is not a human habitation handelt es sich um Kompositbilder bestehend aus Fotografie, Text und poetischen Fragmenten. Über Ansichten der landschaftlichen Peripherie rund um Gefängnisse in Berlin und Marseille schichtet Saad per Lentikulardruck Gedanken, Objekte und Orte des Zugangs, der Freizeit und der Abgeschiedenheit. Mit diesem emotional aufgeladenen Palimpsest hinterfragt Saad unbewusste, unterdrückende Architekturen von Wahrnehmung und Gedächtnis. Im Versuch, die gelebte Erfahrung und das Gefühlsleben der Protagonist*innen zu porträtieren, die sich an den Grenzen gesellschaftlicher Normen und legaler Strukturen bewegen, verschränkt Saad unterschiedliche liminale Räume miteinander. Neben den Lentikulardrucken zeigt Saad eine in Zusammenarbeit mit der Autorin Maxi Wallenhorst entstehende Videoarbeit in progress. Fateless (Arbeitstitel) stellt die Probe für einen Film dar und besteht aus einer Reihe von Casting-Gesprächen. Mit den als mögliche Protagonist*innen auftretenden Figuren erzählen Saad und Wallenhorst die Geschichte einer Stadt, gleichermaßen abstrakt wie beklemmend. Anhand von widerständigen Strategien der Protagonist*innen, die diese nutzen, um sich Zuschreibungen emanzipatorisch entgegenzustellen, beleuchten sie die sozial bedrückende und politische Architektur der Stadt.
Bassam Saad ist ein*e in Beirut geborene*r Künstler*in und Autor*in. Saads Arbeiten erkunden historische Brüche, Spontanität, Mehrwert in Form von Film, Performance und Skulptur sowie Essays und Fiktion. Saad war im Museum of Modern Art (New York), beim CPH:DOX Copenhagen International Documentary Film Festival, im Triangle-Astérides centre d’art contemporain (Marseille), bei der Busan Biennale und der Transmediale (Berlin) zu sehen. Saads Arbeit Congress of Idling Persons wurde in der Kategorie New:Vision-Award beim CPH:DOX 2022 mit einer speziellen Erwähnung ausgezeichnet.
Maxi Wallenhorst ist Autorin und lebt in Berlin. Wallenhorsts jüngere Essays wurden auf e-flux und in Texte zur Kunst veröffentlicht.
Tian Guoxin, Project Unknown Kiwifruit, 2022–2023, Tauranga City Libraries Photograph Collection, 1979, zeigt eine Feier zum 20. Jahrestag der Namensgebung der Kiwi durch Turners & Growers. Der Name wurde von Mr. John Turner (rechts) geprägt. Courtesy die Künstlerin.
Tian Guoxin (*1991, CN)
论斤论个 per kilo, per fruit, 2023
Beschattungsnetze 20%, rote Mihoutao der Sorte Donghong, Rebe der vergangenen Saison, Eimer, Teppich, gepresster Karton, Etiketten, Plastikseile, Polyharz, Ton, A0-Poster (in Zusammenarbeit mit Rory Witt), HD-Video (in Zusammenarbeit mit Yve Oh), Ton,
7 Minuten
Maße variabel
Tian Guoxin interessiert sich für die Beziehung zwischen Menschen und Ressourcen – für deren Extraktion, Kommerzialisierung und Produktion in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Ihre Arbeit 论斤论个 per kilo, per fruit basiert auf umfangreichen Recherchen und begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung der Kiwi: ihrer politischen Geschichte, biologischen Transformation und kulturellen Wahrnehmung. Im frühen 20. Jahrhundert wurde die chinesische Kiwifrucht, „Mihoutao” (猕猴桃), von China nach Neuseeland gebracht, wo sie profitabel angebaut und schließlich nach dem ikonischen Vogel der Insel, dem Kiwi, neu benannt wurde. Tian, die mit der Mihoutao (猕猴桃) vertraut ist, weil sie in der chinesischen Provinz Sichuan wächst, aus der die Künstlerin kommt, folgte den Spuren der Kultivierung der Frucht in Europa. Neu patentiert wird die Kiwi in Norditalien auf Plantagen angepflanzt. Ein Teil dieser Produktion wird heute als Kiwi (奇异果) wieder zurück nach China verkauft. Auf zwei Etagen verfolgt die Installation 论斤论个 per kilo, per fruit den Lebenszyklus der Kiwi von der Namensgebung und Umbenennung über das Anpflanzen, Ernten, Aufziehen, Reifen, Verpacken und Transportieren bis hin zu Vermarktung, Verkauf und Konsum. So legt Tian unterdrückte Geschichten und Machtstrukturen offen, denen natürliche Konsumgüter in einer hyper-industrialisierten Welt untergeordnet sind.
Tian Guoxin wurde in der chinesischen Provinz Sichuan geboren und lebt und arbeitet in Berlin. 2021 schloss sie ihr Studium an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg ab. Sie ist Teil des Künstler*innenkollektivs Pibao Gongsi. Ihre Arbeiten waren kürzlich in der Galerie der Künstler*innen (München) und bei with the rubbles of old palaces (Berlin) zu sehen.
Jasmin Werner, KW Institute for Contemporary Art Fassade, Mock-Up, 2023.
Jasmin Werner (* 1987, DE)
Send Money Fast, 2023
Vier Rollläden, Acrylfarbe, Sprühfarbe
Maße variabel
Jasmin Werners jüngste Arbeit besteht aus einer Serie speziell angefertigter Rollläden, die an vier ausgewählten Fenstern der KW-Fassade angebracht sind. Darauf sind handgemalte Logos der Geldtransfer-Unternehmen Ria, Small World und Western Union zu sehen, die schnelle globale Überweisungen anbieten und deren Kunden damit häufig Verwandte unterstützen, die außerhalb des etablierten westlichen Banksystems leben. Werner beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit Architekturen der Macht sowie der Hierarchie und den Auswirkungen des globalen Kapitalismus. Angeregt von Rollläden, die der Künstlerin an Kiosken in Berliner Bezirken wie Moabit auffielen, setzt sie sich kritisch mit Finanzflüssen und der Prekarität migrantischen Lebens auseinander. Einer der Rollläden zeigt den Flügel eines Falters namens Roter Admiral, der zur migrierenden Spezies der Nymphalidae gehört und dessen Lebenskreislauf durch die zunehmende globale Erwärmung verändert wurde. Die Rollläden entstanden in Zusammenarbeit mit Dawid Celek, einem Berliner Schildermaler und Graffiti-Künstler. Aufgrund seiner polnischen Herkunft bindet er häufig polnische Arbeiter*innen in seine Arbeitsprozesse in Polen und Berlin ein; eine Geste, die sich in Werners kritische Kommentierung des transnationalen Kreislaufs und der Bewegung der Arbeitsmigration einfügt.
Jasmin Werner ist eine deutsch-philippinische Künstlerin und lebt in Berlin. 2016 absolvierte sie ein Studium als Meisterschülerin bei Peter Fischli an der Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, Frankfurt am Main. Sie stellte vor Kurzem im Kunstverein Hannover aus. 2024 sind Einzelausstellungen von ihr in der Kunsthal Thy (Dänemark) und in der Galerie Guido W. Baudach (Berlin) zu sehen.
Impressum
Kuratorin: Sofie Krogh Christensen
Assistenzkuratorin: Sophia Yvette Scherer
Produktionsleitung: Mathias Wölfing
Ausstellungsleitung: Benjamin Althammer
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbau: KW Aufbauteam
Registrarinnen: Monika Grzymislawska, Bryn Veditz
Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano
Programmkoordinator und Outreach: Nikolas Brummer
Presse und Kommunikation: Marie Kube, Anna Falck-Ytter
Text und Redaktion: Sofie Krogh Christensen, Sophia Yvette Scherer
Übersetzung und Lektorat: Sabine Weier, Jayne Wilkinson
Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble
Praktikant*innen: Michael Broschmann, Hibatolah Nassiri-Vural, Robin Schmitt, Nina Wohlfahrter