KW Viele deiner Arbeiten erkunden Rhythmus und die Wahrnehmung von Zeit. Was interessiert dich an diesen Themen?
JE Ich glaube, dass die meisten Menschen ein Gespür für Rhythmus haben, in dem Sinne, dass er körperlich und emotional etwas in ihnen auslösen kann. Wenn ich Rhythmus einerseits als Hilfsmittel sowohl auch als Träger verwende, will ich gewisse Ideen greifbarer und zugänglicher machen. Außerdem lässt sich so auch die Vorherrschaft von Sprache und Rationalität umgehen.
KW Greifbarkeit durch Verkörperung – etwas verstehen, indem man es spürt – tritt als Phänomen in deiner Arbeit häufig auf. Welche Rolle spielt der Körper für dich beim Komponieren elektronischer Musik?
JE Ich denke oft über die künstliche Unterteilung in Körper und Geist nach. Mich interessiert mehr die Einheit der beiden. Wie eine Hinwendung zum Körper andere Formen der Wissensvermittlung eröffnen kann. Rhythmus kann man sich als mathematische Beziehung vorstellen, die erlebt werden muss. Der Fokus auf den Hörsinn, gerade im Unterschied zu vorwiegend visuellen Sprachen, hat mir ermöglicht, alternative Formen der Wahrnehmung zu erkunden.
KW Du setzt dich stark mit den körperlichen Eigenschaften von Klang auseinander – mit seiner Form und wie unsere Wahrnehmung von Klang durch Raum beeinflusst wird. Inwiefern sind beide für dich miteinander verbunden, und was hat dich daran interessiert, ihnen nachzugehen?
JE Seitdem Sound als eigene Disziplin in der Musik und als „neues Material“ in den zeitgenössichen Künsten aufkam – ein Material, das sich mit Maschinen manipulieren lässt –, gibt es diese Tendenz, sich allein auf die physischen Eigenschaften des Mediums zu konzentrieren. Damit befasse ich mich sehr gerne. Gleichzeitig will ich den Kontext rund um und innerhalb eines Klangerlebnisses verstehen. Wir sind ja nicht bloß Individuen mit unseren Sinnen, sondern existieren genauso in kollektiven Kontexten, die unseren Erfahrungen eine zusätzliche Bedeutungsebene verleihen.
KW Wie hast du diese Gedanken konkret in deiner Klanginstallation übersetzt? Als du eingeladen wurdest, eine Klangarbeit für das Dachgeschoss der KW zu schaffen, wie hast du dich der Frage des Raums genähert? Welche Herausforderungen gab es, und wohin hat dich dieser Prozess geführt?
JE Normalerweise besuche ich gern zuerst einen Ort und spüre dort, was er mir sagt. Jeder Ort ist einzigartig und prägt das eigene Erleben der Umgebung. Das Dachgeschoss der KW hat etwas sehr Leuchtendes, und zuallererst fiel mir das Verhalten des Lichts auf, das hier sehr weich ist. Ich überlegte mir, mich danach zu richten, und folgte seinem Verlauf im Laufe des Tages. Der Rhythmus des Sonnenlichts ist ja auch ein Rhythmus des menschlichen Körpers, der zirkadiane Rhythmus. Dadurch ließ ich also die Richtung der Arbeit vorgeben und überlegte, wie ich dieses Verhalten als Material für das Stück verwenden könnte. Dann fing ich an, zu anderen Formen der Zeiteinteilung zu recherchieren, zum Beispiel zur Unix-Zeit, einer Rechenzeit, die seit dem 1. Januar 1970 die vergangenen Sekunden zählt, dabei aber die sogenannten „Schaltsekunden“ nicht mitzählt. Oder westafrikanische Zeitskalen: In subsaharischen und afro-diasporischen musikalischen Kontexten bilden sie die grundlegenden rhythmischen Muster und helfen auch Musiker*innen und Tänzer*innen dabei, den Takt zu halten.
KW In der Konzeption dieser Arbeit konzentrierst du dich auf die Beziehungen zwischen Rhythmus, Mathematik und Zeit. Während du die Installation in den KW entwickelt hast, bist du Teil des Berliner Programm Künstlerische Forschung. In diesem Kontext forschst du zu algorithmischer Komposition, mit besonderem Bezug auf historisch und kulturell situierte Rechenprozesse und afrikanische mathematische Denksysteme. Könntest du uns darüber ein wenig mehr erzählen?
JE Diese Forschung wird wahrscheinlich mein ganzes Leben lang andauern. Ich sehe das als Kontextualisierung meiner Praxis. Ich kann so ein tieferes Verständnis der technologischen Umwelten entwickeln, von denen wir abhängig sind – sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Mir ist dadurch bewusster geworden, dass wir nur in einem möglichen technologischen Universum von vielen leben, und dass nichts daran ideologisch neutral oder geschichtslos ist. Und mir ist auch klar geworden, dass Schwarze afrikanische Beiträge zu diesem Bereich nicht ausreichend bekannt sind. Antechamber wurde davon insofern beeinflusst, als ich ein Interesse daran entwickelt habe, wie sich durch das Zählen des Laufes der Zeit diese Vielzahl an Kontexten erfahrbar machen ließe.
KW Der Kontext, in dem wir Klang erleben, bestimmt unsere Hörgewohnheiten – sowohl durch soziale als auch kulturelle Prägung. Für dich ist das entscheidend, da du unsere vorgegebenen sozialen Hörgewohnheiten unterbrechen oder hinterfragen möchtest. In deinem kompositorischen Ansatz beispielsweise treten häufig Fragen des Stimmens und Einstimmens auf – im Stimmen von Instrumenten oder Anlagen als auch im Vermögen eines Publikums, sich auf einen Klang einzustellen, körperlich wie emotional. Welche Bedeutung hat das für dich und wie spiegelt es sich in deiner Praxis wider?
JE Das Stimmen in der Musik ist ein weiteres Beispiel für mathematische Beziehungen, die unser Körper erleben kann, mit einer zusätzlichen Tiefe durch den jeweiligen soziokulturellen Kontext. Auf einer anderen Ebene umfasst das Stimmen – oder das „sich Einstimmen“ – eine kontextspezifische Neuausrichtung, die sich einer willkürlichen, brutalen Standardisierung entgegensetzt. Auch damit beschäftige ich mich häufig in meiner Arbeit.
KW Du verstehst Klang als soziale Praxis und betonst stets die Bedeutung deiner Live-Auftritte als Raum, in dem Menschen zusammenkommen und gemeinsam hören können. Wie wirkt sich diese soziale Dimension auf deinen Blick auf Musik und Klang aus?
JE Konzerte sind für mich sowohl Gemeinschaft als auch Katharsis. Ich finde es faszinierend, dass die meisten Kulturen über Musik als Medium verfügen und sie nicht einmal irgendein institutionelles Gerüst braucht. Meine Praxis hat das wohl insoweit beeinflusst, als dass meine Arbeit weniger objektbezogen, sondern vielmehr erlebnis- und beziehungsbasiert ist. Für mich ist das der Hauptunterschied zwischen einem Liveauftritt und einer Installation; es geht um Zeit als Materie und wie wir diese im jeweiligen Kontext wahrnehmen. Ein kurzes, punktuelles Ereignis hat notwendigerweise eine andere Intensität als ein Prozess oder eine Situation, die sich über viele Monate hinweg entwickeln. An einer Live-Performance mag ich das eindringliche und flüchtige, es gibt aber auch emotionale oder intellektuelle Zustände, die sich nur durch längere Auseinandersetzung mit einer Situation erreichen lassen.
KW Du hast mal erwähnt, dass du mit der elektronischen Musik erst begonnen hast, nachdem du 2011 nach Berlin kamst. Wie haben sich die Stadt und ihre dynamische Elektroszene auf deine künstlerische Praxis ausgewirkt?
JE Entscheidend waren für mich die Musiker*innen und Künstler*innen, die ich hier getroffen habe, und das riesige kulturelle Angebot. Ich bin in einem Arbeiter*innenmilieu aufgewachsen, in einem Dorf mitten in Frankreich. Mein Weg ging also von einer ganz einsamen Musikerfahrung, mit begrenztem Zugang zu Aufnahmen, hin zum Entdecken des Live-Erlebnisses in Berlin, allein weil mir hier diese Möglichkeiten offenstanden. Zu der Zeit konnte man zu so vielen Veranstaltungen gehen und das eigene Schaffen teilen, dass es für mich nur selbstverständlich war, daraus meine eigene Arbeit zu entwickeln.