Amelie von Wulffen
bis 2. Mai 21

 

In ihren komplexen und selbstreflexiven Arbeiten verhandelt die Berliner Malerin Amelie von Wulffen (*1966, DE) seit den 1990er Jahren das Verhältnis von Innen- und Außenwelt als Konfliktlinie von Ängsten, emotionalen Traumata und Schuld, aber auch von Sehnsüchten und unterdrückten Fantasien vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Familienchronik und nationaler Geschichte. Von Wulffens Bilder sind oft melancholisch, ihnen haftet eine nervöse, wehmütige, beinahe selbstironisch-hysterische Spannung an. Trotz ihres oft düsteren Grundtenors erscheinen sie den Betrachter*innen zugewandt. Die Arbeiten legen unerwartete, bisweilen schmerzhafte Assoziationen nahe, in denen sich auch die Künstlerin als Figur zur Disposition stellt. In eine märchenhafte Sprache gehüllte Halb- und Fabelwesen agieren neben historischen Figuren in traumartigen Szenarien. Alltägliches und (Kunst-)Historisches wird gleichermaßen verhandelt und verschiedene Malstile und ästhetische Widersprüche gezielt kontrastiert.

 

Amelie von Wulffens Ausstellung in den KW Institute for Contemporary Art ist die erste institutionelle Einzelausstellung der Künstlerin in ihrer Wahlheimat Berlin und präsentiert umfangreiche Neuproduktionen neben einer Reihe früher Arbeiten, in denen Berlin schlaglichtartig erscheint. Die Gegenüberstellung zeigt interessante Bezüge und Kontinuitäten und stellt alten Kerngedanken neue Antriebe gegenüber. Die Ausstellung beginnt mit einer Serie von Bleistiftzeichnungen, Die graue Partizipation (2001), die das Berlin der Nachwendezeit heraufbeschwören. Auf Konzerten oder bei Clubbesuchen aufgenommene Fotografien zeichnete von Wulffen anschließend im Atelier ab – mit tastendem Strich versuchte sie, sich die Situationen des jeweiligen Vorabends neu anzueignen. Thematisiert wird, neben Gefühlen der eigenen Entfremdung von „den Anderen“, das Auseinanderfallen von Sehen, Denken und Empfinden. Was ist Sehen im Verhältnis zur Wirklichkeit und zum eigenen Erleben, und wo lagert sich das Gesehene ab?

 

Im Nachbarraum hängen Selbstportraits von Wullffens vornehmlich aus der Serie Bitte keine heiße Asche einwerfen (2009), die die Malerin in unterschiedlichen Stimmungen und mit verschiedenen Attributen abbilden. Die Frage nach der Konstitution des „Selbst“ wird zu einem fragilen Spiel verschiedener (Selbst-)Darstellungsformen. Das eigene zeichnerische (Un-)Vermögen wird produktiv gemacht und die Rolle technischer Hilfsmittel wie ein Foto oder Spiegel bei der Selbstwahrnehmung beleuchtet. Wie, so fragt von Wulffen, kommt die Welt (Ich) ins Bild?

 

Oft geht von Wulffens Malerei über die Leinwand hinaus und bezieht den Ausstellungsraum direkt in ihre Arbeit mit ein. Auch Schulstühle, Bauernschränke oder selbstgebautes Mobiliar können als Bildträger dienen. Die Malerei führt dabei die andernfalls separierten Elemente in einem fiktionalen Raum zusammen. In dem selbst entworfenen Kompositmöbel Der verkannte Bimpfi (2016) werden Bett, Klavier und Beichtstuhl zu einem Apparat kultureller und moralischer (Selbst-)Züchtigung kombiniert, der durch Malerei zu einem adoleszenten Nest subversiv umgewidmet wird. Volkstümelnde Landschaftsmalerei und Straßen-Impressionismus zweiten Grades kollidieren hier mit TV-Sternchen amerikanischer Serien der 1970er Jahre und frei erfundener Psycho-Figuration. Der Titel geht auf das gleichnamige, bekannte Erziehungsbuch zurück, das Generationen von deutschen Kindern anhand eines anthropomorphisierten Pilzes über Falschurteile, Hetze, Schuld und Verrat aufklärte. Ein verstohlener Wunsch nach Rehabilitation scheint auf. Anthropomorphismus steht für das Bedürfnis des Menschen, sich in allem zu spiegeln und ist ein wiederkehrendes Motiv in von Wulffens Arbeiten, so auch in ihrer Aquarellserie This is how it happened (2011–2020), die in Form emblematischer Portraits an Kinderbücher und Werbegrafik erinnert. Obst, Gemüse, Schrauben, Werkzeuge oder Pinsel durchleben teils banale, teils dramatische Situationen; die freundliche Bildsprache kollidiert mit alltäglicher Grausamkeit.

 

Seit 2011 begleiten Comics von Wulffens Malerei, in denen sie ihren eigenen Platz in der (Kunst-)Welt, soziale Zugehörigkeiten und den eigenen Marktwert als Künstlerin thematisiert. Daraus resultierende Situationen – sei es der Platz am coolen („kühlen“) Tisch beim Eröffnungsessen, der die Dynamik und das soziale Rangeln um Status in der Kunstszene spiegelt, oder die Ernüchterung, die einen beim Ego-Googlen angesichts des absteigenden Graphen des Artfacts-Rankings befällt –, verhandelt die Diashow Am kühlen Tisch (2013). Selbstironisch werden Versagensängste, Frustration, Einsamkeit, Konkurrenz und andere existentielle Fragen mit den zumeist oberflächlichen Markern der Kunstszene verbandelt, wenn auch nur, um deren vermeintliche Relevanz durch Verweise auf „reale“ weltgeschichtliche Krisen zu entkräften.

 

Die Architekturcollagen aus dem Jahr 1998 basieren auf Fotografien modernistischer, meist Ostberliner Gebäude, darunter das ehemalige Palasthotel, die Tschechische Botschaft und das damalige Western-Lokal am Alexanderplatz. Von Wulffen transformiert die fotografierte Realität und erweitert sie malerisch, wodurch sich deren physische Präsenz gegenüber der Fotografie stark intensiviert. Es entstehen hybride Räume aus Fotografie und Malerei. Die Malerei wird auf diese Weise in ihrer Abgrenzung zur Fotografie nach ihren spezifischen Möglichkeiten befragt. Daneben läuft der Knetgummi-Animationsfilm Pedigree (1996–1999, koproduziert mit Michael Graessner). Audio-Fragmente aus Filmen von Michelangelo Antonioni und Andrei Tarkowski bereiten hier das akustische Bett aus Politik und Liebe, in dem sich vor einem dramatisch gefärbten Himmel die leidenschaftliche Begegnung eines Paares vollzieht.

 

In den letzten Jahren erscheinen vermehrt Indize und Systeme der Ordnung in von Wulffens Arbeiten. Ein übermalter Bauernschrank öffnet sich, darin finden sich Grabsteinreihen aus Keramik, deren Formen sich auf unheimliche Weise auch in den anderorts gemalten Eisvariationen der Langnese-Werbetafeln spiegeln. Weitere unheimliche formale Verbindungen finden sich in der Aufreihung der Kinder auf Weihnachtsgrußkarten in einem der Bilder oder in der Film- und Serienübersicht von Netflix. Die freie Wahl beschränkt sich auf Dexter oder House of Cards, auf Nucki Nuss oder Mini Milk. Diese scheinbar selbstverständliche Logik der Reihung und Entsprechung verstaut von Wulffen wiederum innerhalb komplexer Verschachtelungen. Objekte im Objekt, Bilder im Bild, die sich wie Fenster auf immer neue Realitätsebenen öffnen und so die Grenze des Bildes und dessen Teilhabe an der Realität in Frage stellen.

 

Mit einer neuen szenografischen Genreinstallation bespielt Amelie von Wulffen die Halle der KW. Eine dramatische Wunderkammer, in der das Verhältnis von Mensch und Natur verhandelt wird, das auch angesichts der totalen Umweltzerstörung noch von romantischer Landschafts- und Naturprojektion bestimmt ist. Auf bemalten Sockeln erhebt sich eine Armee anthropomorpher Objektcollagen, die wie „Wutbürger“ den Betrachter*innen anklagend entgegentreten. Diese liebevoll gefertigten Monstrositäten wirken wie ans Ufer gespülte Überbleibsel. Ihre kleinen Körper – aus Muscheln, Holz und Moos zusammengesetzt – könnten aus einem ethnologischen Museum stammen – oder sind es Kreuzungen aus Souvenir-Merchandise, Nippes und Meissener Porzellanfiguren? Sie verkörpern das Aufbegehren einer sterbenden Welt, die nicht länger für Ferien, Erholung und Alltagsfluchtfantasien zur Verfügung steht.

 

Die mit Seestücken bemalten Holzsockel lassen sich neben der pittoresken Schönheit des Meeres auch als apokalyptische Vision lesen; das trübe Wasser steht bereits kniehoch im Raum. Stürmisches, verfärbtes Licht, angespülte Trümmer und Ölfelder beschwören die Folgen der Umweltzerstörung und Kriegsszenarien herauf. Zwischen all dem liegt ein scheinbar sterbender, alter Mann auf einem Bett. Auf seiner Brust sitzt eine kleine gemalte Muschelfigur. Handelt es sich um eine Grabbeigabe? An diesem Punkt schlägt die Szenerie um, und man befindet sich in der Grabkammer eines Pharaos. Im Zentrum der Gruppe lehnt eine Figur aus Exkrementen (Papiermaché) verhalten an einem Baumstamm. Schmeißfliegen-Mutationen aus Miesmuscheln kündigen eine ökologische Katastrophe an, auch die umliegenden Wände sind teils braun beschmiert. Nackt, nur mit einem Portemonnaie ausstaffiert, scheint das Exkrement-Wesen, das sich auch als Verkörperung der Künstlerin lesen lässt, die kleinen Artefakte wie auf einem Trödelmarkt zum Kauf anzubieten. Die Figur ist nicht zuletzt auch ein Verweis auf den Comic The Boulders (Die Findlinge) (2017), in dem von Wulffen auf die Rustikalität und Braunlastigkeit deutscher Malerei reflektiert. Wie in vielen ihrer Arbeiten scheint auch hier die deutsche Geschichte als schwere Erbschaft auf.

 

Weitere neue Arbeiten um die Installation herum behandeln abermals die abgründigen Dimensionen von Familie, in der neben Liebe und Kultur auch bleierne Probleme und Verdrängtes weitergegeben werden. Besonders emotional werden diese durch die Dimension des Abschieds von den Eltern. Der Rückzug in eine von Träumen bestimmte Logik wird hier zum Programm, in dem sich die Erinnerungen an kindliche Grausamkeit, die vergebliche Suche nach Wiedergutmachung und die Hoffnung auf einen Ausstieg aus dem Kreislauf der Schuld mit der Frage vermischen, ob der Mensch gänzlich inkompatibel mit seiner Umwelt ist.

 

Die Malerin Amelie von Wulffen hat anlässlich ihrer Einzelausstellung in den KW eine Edition von Schmeißfliegen-Mutationen aus Miesmuscheln und Pappmache produziert, die der neuproduzierten szenografischen Genreinstallation in der Halle der KW entlehnt wurden. Begleitend zur Ausstellung erscheint eine Publikation gesammelter Comics von Wulffens aus den Jahren 2011 bis 2020 im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König.

 

Impressum

Kuratorin: Anna Gritz

Assistenzkuratorin: Kathrin Bentele

Programmkoordination und Outreach: Sabrina Herrmann

Produktionsleitung: Katrin Winkler

Technische Leitung: Benjamin Althammer, Wilken Schade

Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger

Aufbauteam: KW Aufbauteam

Registrarin: Monika Grzymislawska

Bildung und Vermittlung: Katja Zeidler

Leitung Presse und Kommunikation: Karoline Köber

Text und Redaktion: Kathrin Bentele, Anna Gritz

Friederike Klapp, Karoline Köber

Übersetzung: Jill Denton

Praktikant*innen: Jannis Becker, Melanie Liu, Younes Mohammadi

 

Ausstellungsarchitektur: Amelie von Wulffen in Zusammenarbeit mit Lucio Auri

 

© KW Institute for Contemporary Art, Berlin.

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

<p>Die Ausstellung von Amelie von Wulffen wird von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.</p>
<p> </p>

 

Die Ausstellung von Amelie von Wulffen wird von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert.

 

 

<p>Die Ausstellung <em>Stadt und Knete. Positionen der 1990er Jahre </em>bei<em> </em>after the butcher – Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und soziale Fragen findet in Kollaboration mit den KW statt.</p>
<p> </p>

 

Die Ausstellung Stadt und Knete. Positionen der 1990er Jahre bei after the butcher – Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und soziale Fragen findet in Kollaboration mit den KW statt.

 

 

<p>Medienpartner: Spike Art Magazine</p>

 

Medienpartner: Spike Art Magazine