Kuratorischer Text
Enrico David
Destroyed Men Come and Go
10. Juni – 20. August 23
Kurator: Krist Gruijthuijsen
Assistenzkuratorin: Sofie Krogh Christensen
KW Studio über Enrico David mit Krist Gruijthuijsen und Sofie Krogh Christensen. Produktion: LOCOLOR, Realisation & Producer: Vincent Schaack, Kamera: Vincent Schaack, Adrian Nehm, Alejandro Mancera, Editing & Color Grading: Lia Valero
Das KW Institute for Contemporary Art freut sich, die Ausstellung Destroyed Men Come and Go des in London lebenden italienischen Künstlers Enrico David präsentieren zu können. Diese erste institutionelle Einzelausstellung Davids in Deutschland widmet sich ausschließlich seiner Bildhauerei. Nach mehr als 30 Jahren bildhauerischer Tätigkeit ist David heute einer der herausragenden Künstler seiner Generation.
Enrico David (*1966, Italien) arbeitet in den Bereichen Skulptur, Malerei, Textilkunst und Installation, wobei der Schlüssel zu seinen Erkundungen der Form das Medium der Zeichnung ist. Der Künstler lotet den Raum zwischen Figuration und Abstraktion aus. Dabei kehrt er immer wieder zum Körper als Ausgangspunkt zurück, indem er die menschliche Figur als Metapher für Veränderung nimmt. Seine Arbeit wurde maßgeblich durch das Interesse an der britischen und europäischen Bildhauerei der Moderne beeinflusst und ist insbesondere von Künstler*innen wie Barbara Hepworth, Henry Moore und Alberto Giacometti inspiriert. Zugleich bewahrt David eine eigenständige Ästhetik und bedient sich einer provozierend mehrdeutigen Sprache. Seine menschlichen Figuren aus Bronze, Siebdruck, Stahl und Gipspolymer nehmen unterschiedlichste Posen ein und treten dabei oft in Dialog mit der sie umgebenden Architektur – sie schmiegen sich an den Fußboden, lehnen sich an die Wand oder hängen an der Decke. Durch Bezugnahmen zur Anatomie prägt das Thema der Metamorphose seine Figuren und verbindet diese Arbeiten mit der Natur. Die kontinuierliche Veränderung spiegelt sich auch in Davids Umgang mit dem Material wider, machen doch das Modellieren und der Guss eine klare Identifizierung des Ausgangsmaterials seiner Werke unmöglich.
Der Titel der Ausstellung entstammt einem Zitat von Maurice Blanchot, in dem es um das Verhältnis von Existenz, Sprache und Leere in Samuel Becketts einflussreichem Theaterstück Warten auf Godot (1952) und um dessen Allegorie auf den Zusammenbruch der Vernunft geht. Wenn Blanchot in seinem Buch Die Schrift des Desasters schreibt, „Wir sind aus dem Sein gefallen, nach draußen, wo zerstörte Menschen starr, mit langsamem und stetem Schritt kommen und gehen“, schildert er damit den Sündenfall der Menschheit im Anthropozän. Davids Skulpturen vermitteln den mühsamen Versuch des Menschen, sich an die jeweils gegebenen Umstände anzupassen, dabei greifen sie Blanchots Gedanken zur Subjektivität auf und arbeiten die Autonomie des Körpers über verschiedene Stufen des Nichtseins und Werdens hinweg akribisch heraus.
David begibt sich gerne auf Zeitreise, um die Darstellung des Körpers in unterschiedlichen Zuständen – schlafend, hängend, entspannt oder im Verfall begriffen – im Laufe der verschiedenen Phasen der Menschheitsgeschichte miteinander zu verbinden. Seine Bezugspunkte sind bewusst naiv und vielfältig ausgewählt, unter anderem bezieht er sich auf die Kultur der Maya, die Tang-Dynastie und die Wiener Werkstätte. Um ihre formalen und universellen Qualitäten in den Vordergrund zu rücken, kontextualisiert David seine Aneignungen jedoch neu, wobei dysmorphe Gebilde, wie sie zum Beispiel durch dokumentarische Fotos erzeugt werden, neue Möglichkeiten für menschliche und nichtmenschliche Figurationen bieten. Das Werk des Künstlers ist voll von diesen körperlosen Figuren, die trotz ihrer Verletzlichkeit und grotesken Erscheinung oft als Selbstporträts verstanden werden. Der Begriff des Anthropomorphismus zieht sich wie ein roter Faden durch Davids Werk, in dem Gliedmaßen aus Möbeln herausragen und sich auflösende Körper Ornamente bilden. Es ist ein wiederkehrender, zirkulärer Prozess, bei dem die menschliche Gestalt geformt und umgeformt und immer wieder neu geschaffen wird. Diese Darstellungen verbinden sich mit Formen des Surrealismus, dessen Theatralik dem Verständnis der Moderne von Abstraktion zuwiderläuft.
Den Auftakt der Ausstellung in den KW bildet eine dreidimensionale Assemblage, die sich der historischen Form des Dioramas bedient. Das Diorama, ein 1823 erstmals präsentiertes Medium, ist ein bildhafter Schaukasten, wörtlich übersetzt ein „Durchschaubild“ – vom griechischen di- durch und hórama das Geschaute. Die darin von David ausgebreitete Welt enthält das Bild einer alten Maya-Skulptur – eine männliche Figur in entspannter Pose, die schwanger zu sein scheint – sowie ein Bild einer Skulptur an der mittelalterlichen Kathedrale von Autun in Frankreich, die auf merkwürdige Weise ihr Hinterteil zur Schau stellt, welches er der Arbeit Some Faggy Gestures (2008) des Künstlerfreundes Henrik Olesen entnommen hat. Um diese beiden Bilder herum sind bronzene Gliedmaßen eines zerstückelten Körpers verstreut, wobei die große Zeichnung die Kulisse für die gesamte Szenerie bildet. Study for Circulation of the Eye. Our Body and the Body of the Thing (2022) soll, wie bereits der Titel andeutet, zum assoziativen Lesen und zur formalen Gegenüberstellung anregen und zugleich einen intimen Raum eröffnen. Das Werk liefert eine Art Anleitung zum Lesen der Ausstellung und macht den Ausstellungsraum als Ganzes zu einem vergrößerten Diorama. Die diese Welt bevölkernden „Kreaturen“ haben eine ungewöhnliche Körpergröße, die zuweilen an jene eines heranwachsenden Kindes erinnert. Generell sind Proportionen bei Davids Skulpturen ein wesentlicher Aspekt, ebenso wie die Wiederholungen von Formen, die sie wie ein Echo wirken lassen.
In der Haupthalle der KW wird eine neuartige räumliche und theatralische Anordnung präsentiert, ein Raum des Wartens und der Spannung, in dem die Grenzen zwischen Zeichnung, Skulptur und Theaterrequisite verschwimmen. Die aus dem Sein herausgefallenen und sich ständig performativ verändernden anthropomorphen Kreaturen und Blanchots zerstörte Menschen ähneln sich insofern, als sie uns an den der Menschheit inhärenten Zusammenbruch erinnern. Diese zeitgemäßen Überlegungen zum physischen Körper, seiner Wahrnehmung und seinen Bedrohungen werden zu Spiegeln, deren Reflexionen unsere existenziellen Ängste und Sehnsüchte hinterfragen.
Zur Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch, das in Format und grafischer Gestaltung einer Publikation von 1929 entspricht – Die Wiener Werkstätte 1903–1928. Modernes Kunstgewerbe und sein Weg. Es enthält Beiträge von Sofia Silva und Henrik Olesen. David betrachtet das Buch als Erweiterung der Ausstellung – in dem Sinne, dass Übersetzung, Appropriation und Redaktion Prozesse sind, die mit seiner bildhauerischen Praxis verglichen werden können.
Künstlerbiografie
Enrico David (* 1966, Italien) war in bedeutenden Einzelausstellungen renommierter Kunstinstitutionen zu sehen, darunter Hirshhorn Museum and Sculpture Center, Washington, D.C. Museum of Contemporary Art, Chicago; Sharjah Art Foundation; Lismore Castle; The Hepworth Wakefield, West Yorkshire; Maramotti Collection, Reggio Emilia; UCLA Hammer Museum, Los Angeles; New Museum, New York; Fondazione Bevilacqua La Masa, Venedig; Museum für Gegenwartskunst, Basel; Seattle Art Museum; und ICA London. Im Jahr 2019 vertrat Enrico David Italien im italienischen Pavillon auf der Biennale von Venedig. Der Künstler lebt und arbeitet derzeit in London.
Impressum
Kurator: Krist Gruijthuijsen
Assistenzkuratorin: Sofie Krogh Christensen
Produktionsleitung: Mathias Wölfing, Claire Spilker (in Elternzeit)
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbau: KW Aufbauteam
Registrarin: Monika Grzymislawska
Assistenzregistrarin: Carlotta Gonindard Liebe
Leitung Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano (in Elternzeit)
Programmkoordinator und Outreach: Nikolas Brummer
Presse und Kommunikation: Anna Falck-Ytter, Marie Kube
Assistenz Presse und Kommunikation: Luisa Schmoock
Text und Redaktion: Krist Gruijthuijsen, Sofie Krogh Christensen
Übersetzung und Lektorat: Dr. Sylvia Zirden, Simon Wolff, Katrin und Hans Georg Hiller von Gaertringen
Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble
Praktikantinnen: Isabella de Arruda Ilg, Pia Gottschalk, Marie Hütter, Teresa Millich