Henry Darger
Vom 29. September 2001 - 31. März 2002 präsentieren die KW Institute for Contemporary Art erstmalig in Berlin eine Auswahl von Aquarellen des Amerikanischen Künstlers Henry Darger (1892 - 1973), dessen Werk wahrscheinlich zu den ungewöhnlichsten Phänomenen der Kunst des 20. Jahrhunderts gehört.
Geprägt durch eine Kindheit als Halbwaise (seine Mutter starb bei der Geburt seiner Schwester, die wiederum zur Adoption freigegeben wurde) und bald darauf als Vollwaise in Kinderheimen, begann Henry Darger (1892 - 1973) schon in seiner Jugend eine Gegen- und Phantasiewelt aufzubauen, die für ihn zur Zuflucht vor der Welt der Erwachsenen und zu einer zweiten Realität wurde. Unschuldige Kinder, vorpubertäre Mädchen und langhaarige Jungen stehen als Opfer oder auch gerechte Kämpfer den bösen Erwachsenen - Lehrern, Erziehern und Kriegsherren - gegenüber. Über einen Zeitraum von sechs Jahrzehnten widmete sich der als Krankenhaushausmeister arbeitende, einsiedlerisch lebende Darger fast ausschließlich der Schaffung eines einzigen Werkes, dem 15.000 Seiten umfassenden Epos The Realms of the Unreal, illustriert mit einer eindrucksvollen Serie von undatierten Aquarellen. Darger hat die Schrecken des Krieges gefiltert durch die Berichte der Zeitungen miterlebt und sie zuerst als Kollagen und dann zunehmend freier visuell bearbeitet. Schlachten, Konzentrationslager und andere Tiefpunkte des 20. Jahrhunderts kommen in seiner Kinderwelt ebenso vor wie schillernde Fabelwesen und florale Landschaften.
The Realms of the Unreal (genauer Titel: The Story of the Vivian Girls in What is known as the Realms of the Unreal or the Glandelinian War Storm or the Glandico-Abbiennian Wars, as Caused by the Child Slave Rebellion) schildert Krieg, wie wir ihn uns in unserer kollektiven Psyche vorstellen: die „Unschuldigen" sind engelhaft unschuldig, die Bösen unbeschreibbar grausam. Die Geschichte schildert die Schlacht zwischen sieben heroischen kleinen Mädchen, genannt die Vivian Girls, die eine Katholische Republik verteidigen und glaubensabtrünnigen Schlächtern, den Glandolinians.
Selbst den Wunsch hegend, nie erwachsen zu werden, und unermüdlicher Sammler aller Arten von Reproduktionen von Kindern, sind The Realms of the Unreal ausschließlich von Kindern bevölkert. Obwohl Darger nie einen Krieg erlebte - er wurde nur kurzzeitig für den 1. Weltkrieg eingezogen - scheint er ihn durch sein obsessives Sammeln von Zeitungs- und Magazinausschnitten durchlitten zu haben. Seine Arbeiten, die er teils zu überdimensionalen Formaten zusammengenäht hat, sind gleichzeitig naiv charmant, grotesk und zutiefst irritierend und brutal.
Henry Darger verstand sich nicht als Künstler, es kam ihm nicht darauf an, sein Werk jemals ausgestellt zu sehen. Seine Arbeiten wurden erst posthum von seinem Vermietern, dem Bauhaus-Künstler Nathan Lerner und der Pianistin Kiyoko Lerner, entdeckt und veröffentlicht. Seither ist Darger eine Art Geheimtip der internationalen Kunstszene. Versuche, seine Kunst in die Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts einzuordnen - ob Outsider Art, Art Brut, Catholic Art oder proto-pop - sind unzureichend. Vielmehr scheint es, daß viele von Dargers Arbeiten Bilder der neueren Kunstproduktion, wie Damian Hirst, Anna Gaskell oder die Chapman Brüder vorwegnehmen.
Die Auswahl der in den Kunst-Werken präsentierten Aquarelle, die auch bisher unveröffentlichte Arbeiten enthält, wurde im letzten Jahr zusammen mit den „Schrecken des Krieges" von Francisco Goya und dem Werkzyklus „Hell" von Dinos und Jake Chapman im P.S.1/MoMA in New York gezeigt.
Die Ausstellung ist Teil des künstlerischen Rahmenprogrammes der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944", die vom 28. November 2001 - 13. Januar 2002 in den Kunst-Werken gezeigt wird.
Unterstützt von der Nathan und Kiyoko Lerner Foundation.