Kuratorischer Text
Kameelah Janan Rasheed
in the coherence, we weep
14. September 23 – 7. Januar 24
Kuratorin: Sofie Krogh Christensen
Assistenzkuratorin: Linda Franken
KW Studio über die Ausstellung: in the coherence, we weep mit Kameelah Janan Rasheed, Sofie Krogh Christensen und Christina Landbrecht. Produktion: LOCOLOR, Realisation & Producer: Gregor Kuhlmann, Kamera & Ton: Gregor Kuhlmann, Adrian Nehm, Editing & Color Grading: Lia Valero. Eine Produktion der KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2023.
Kameelah Janan Rasheed (*1985, USA) ist Preisträgerin des Preis für künstlerische Forschung 2022 der Schering Stiftung, der gemeinsam mit der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt verliehen wird.
Rasheeds Arbeiten beschäftigen sich mit der Materialität und Lesbarkeit von Text, Schrift und Sprache sowie mit den Möglichkeiten der intermedialen Übersetzung. Ihre künstlerische Arbeit stützt sich auf verschiedene Denkansätze aus Wissenschaft, Literatur, Philosophie, Religion und kritischer Theorie, ohne dass es zwischen diesen eine erkenntnistheoretische Hierarchie gäbe. Die Infragestellung dieser Denkansätze und ihres eigenen Wissens ist die treibende Kraft für Rasheed und ihr Schaffen. Sie sorgt dafür, dass Rasheed immer wieder ins Stocken gerät, innehält und die Ontologie ihres Untersuchungsgegenstandes sowie ihr Streben nach kontinuierlicher Auseinandersetzung überdenkt und hinterfragt. Auf dem gewundenen Pfad der Lernenden verbindet sie Gewissheit mit Ungewissheit und spürt dem Raum dazwischen nach. Die in Brooklyn lebende Künstlerin versammelt in ihren Arbeiten verschiedenste Textausschnitte und ordnet sie wie beim Layout eines Buches an. Buchstaben sind für sie eigenständige Wesen mit einer eigenen Geschichte, Bedürfnissen und einem Innenleben, und sie integriert diese in ihre Schriften, kommentiert sie, montiert sie und klebt sie an Wände. Auf diese Weise überbrückt Rasheed die Kluft zwischen Politik und Poesie und versucht, Verbindungen und Bruchstellen auszumachen.
in the coherence, we weep befasst sich mit dem kritischen Potenzial von Inkohärenzen. Das Projekt ist ein Versuch, Methoden medienübergreifend darzustellen und dabei Störungen zuzulassen, die Momente der kritischen Selbstreflexion und Wissensproduktion ermöglichen.
Für Rasheed, die 2008 an der Stanford University einen Master-Abschluss in Sozialpädagogik für den Sekundarbereich erwarb, ist das Lernen seit Langem ein fester Bestandteil ihrer künstlerischen Identität und Forschung. Ihre Strategie ist in den Black Studies und der Black Radical Tradition verwurzelt. Zu den Quellen, mit denen sie sich auseinandersetzt, gehören daher neben vielen anderen auch die Dichterinnen Lucille Clifton und Octavia Butler sowie die Wissenschaftler*innen Ashon Crawley, Alexis Pauline Gumbs, Fred Moten, Tina Post und Kevin Quashie. Ähnlich zu ihrer künstlerischen Forschungsarbeit befinden sich Rasheeds Werke auch einem ständigen Dialog miteinander, und sind über Zeiträume, (Ausstellungs-)Räume und Buchseiten hinweg miteinander verbunden. Ihre Arbeitsweise bietet Gelegenheiten zur Improvisation – nicht nur in den Gesprächen mit Gleichgesinnten, die sie ausgiebig in ihren Schriften, Interviews, Vorträgen und Lehrveranstaltungen führt, sondern auch in der Kommunikation zwischen den Textfragmenten, die sie in ihren Arbeiten aneinanderreiht.
in the coherence, we weep ist sowohl ein Künstlerinnenbuch als auch eine Ausstellung. Die Publikation dreht sich thematisch und methodisch um das Gespräch – unter anderem im Austausch mit der Kuratorin und Architektin Ladi’Sasha Jones und der Künstlerin Chang Yuchen – und steht gleichzeitig im Dialog mit der Ausstellung: Die Publikation ist sozusagen die Partitur und die Ausstellung eine Aufführung dieser. Das Buch und die Ausstellung wurden parallel entwickelt und reflektieren sich kritisch gegenseitig wobei ihre Entstehung und ihre Form sich ineinander verschränken und miteinander verschwimmen. Indem sie Rasheeds bestehende Arbeiten und neue Auftragsarbeiten miteinander verknüpft, erforscht die Ausstellung die Geschichte von Schwarzer Improvisation, von Spiel und experimenteller Poetik; von Strategien, um Text in verschiedenen architektonischen Kontexten lebendig und dynamisch zu gestalten, und Strategien, die im Familienarchiv der Künstlerin zum Einsatz kommen, wobei besonderes Augenmerk auf das Kommentieren, Korrigieren, Indexikalität, Unschärfe und das Lernen durch Lesen und Schreiben gelegt wird.
Rasheed stammt aus einem Elternhaus, in dem viel gelesen wurde. Sie wuchs in East Palo Alto, einer kleinen Stadt im Silicon Valley, auf, und da sich ihre Eltern – jeweils auf ihre Weise – gerne mit Gedrucktem aller Art beschäftigten, war die Künstlerin stets davon umgeben. Insbesondere ihr Vater und seine Montagetechnik haben ihre Art, Texte als etwas Formbares zu betrachten, nachhaltig beeinflusst, weshalb in the coherence, we weep implizit und explizit mit dem Archiv von Kamal Saleem Rasheed, dem Vater der Künstlerin, beginnt und endet. Eine Auswahl seiner persönlichen Notizen That Which Sprouts Another (ca. 1984–2023) ist hier zum ersten Mal zu sehen, und darüber hinaus arbeitet Kameelah Janan Rasheed mit „ancestral co-writing“ (nach Alexis Pauline Gumbs), einer Form der generationenübergreifenden sprachlichen Zusammenarbeit. Sie taucht in mehreren der gezeigten Werke auf, zum Beispiel in den Auftragsarbeiten This indicates whether desire opens a sentence und This form is not aware of its form (beide 2023).
Über die erste und zweite Etage der KW entfaltet sich die Ausstellung als „primitiver Hypertext“ – nach dem von Octavia Butler geprägten Begriff für das Lesen als interaktiver Prozess, bei dem zwischen verschiedenen Quellen gleichzeitig hin- und hergewechselt wird – oder, mit den Worten des Semiotikers Umberto Eco, als „inferenzieller Spaziergang zwischen semantischen Lücken“, bei dem die Betrachter*innen zum Klebstoff zwischen ihnen werden. Der sich überlappende Text auf den Bannern der monumentalen Auftragsarbeit Air Shaft Study I–III (2023) mitten im offenen Atrium gerät immer wieder aus dem Fokus, was seine Lesbarkeit und die körperliche Beziehung der Betrachtenden zum Lesen beeinträchtigt. Rasheed fasst das Atrium der KW als einen Luftschacht auf, wie Tina Post ihn beschrieben hat, als einen Raum des „Kontrasts“ und der verwaschenen Stimmen, in dem Körper, Architektur und Subjektivität sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn miteinander im Einklang stehen.
Die wiederholte Betrachtung von Werken ist im kuratorischen und künstlerischen Prozess von großer Bedeutung. In der Publikation werden die Leser*innen mit einem ähnlichen Ansatz der Überlagerung und Kommentierung von Werken und Texten konfrontiert wie das Publikum im Ausstellungsraum. An den Wänden im ersten Stock, zwischen beschrifteten Säulen und einer Auswahl von bekannten Arbeiten wie Punctuated Blackness (2013) und And Black? (2017), werden die Drucke Each Sentence is a Sponge und The Page Held (Vibrating Structures) (beide 2020) zusammen mit handschriftlichen Notizen präsentiert, die die Werke und ihre Beziehungen zueinander verbinden oder stören und dadurch eine Art räumliches Palimpsest schaffen.
Eine ähnliche Palimpsestästhetik findet sich ansatzweise in der Wandarbeit Primitive Hypertext (After Octavia Butler) (2022–) im zweiten Stock, die Aussagen wie „I canʼt be a comprehensive sentence“ mit dem Titel von Lucille Cliftons berühmtem Gedicht „Iʼm not done yet“ (1974) verschränkt, und in der Wandschnitzerei Are We There Yet? (and other questions of proximity, destination, and relative comfort) (2017). Neben der Tafelzeichnung Futile Efforts to Capture a Blur (2023) und dem Video Smooth Operetta (2022) sind eine Reihe neuer Siebdrucke und hochauflösender Inkjet-Drucke auf maßgefertigten Sockeln und den umliegenden Wänden verteilt, die die Verweise auf Textstörungen, luzides Träumen, diagrammatische Poesie und den Begriff des offenen Textes miteinander vernetzen.
Bei in the coherence, we weep verstärken Arbeit und Methode sich gegenseitig. Sie verweisen auf den Akt des Komponierens, die Erkundung neuer Forschungsansätze und die Hinterfragung normativer Verständnisweisen.
Das Buch und die Ausstellung sind weniger physische und materielle Architekturen als vielmehr ein Resonanzraum für Schwarze Subjektivität: Sowohl in der Partitur als auch in der Aufführung schafft Rasheed Schichten zwischen Text und Bedeutung, die deren Beziehung verschleiern und Schwarze Räume ebenso verzeichnen wie konstruieren.
Um den Resonanzraum der Ausstellung zu erweitern und die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Medien zu voranzutreiben, wird im Rahmen des Begleitprogramms eine akustische Reaktion in Auftrag gegeben und präsentiert. Auf dem KW blog erscheinen außerdem monatlich bislang unveröffentlichte Auszüge aus den Gesprächen zwischen Rasheed und Jones.
Ergänzend zur Ausstellung setzte sich Rasheed auch mit der Umgebung der KW auseinander und griff dabei auf ihre langjährige Auseinandersetzung mit Druckerzeugnissen und politischen Aussagen im öffentlichen Raum zurück. In der Eingangspassage zum Hof der KW wird eine frühe Arbeit von Rasheed gezeigt: Selling My Black Rage to the Highest Bidder (2019), 2000 Fotokopien in Form von Abreißzetteln, die an den Wänden kleben. Auch die Flaggen an der Fassade der KW hat die Künstlerin mit der Arbeit How to Suffer Politely (And Other Etiquette) (2014–) neu gestaltet.
How to Suffer Politely (And Other Etiquette) ist eine Präsentation von zwei Flaggen vor der Fassade der KW und fünf knallgelben Postern in den Straßen Berlins, die an herkömmliche Etikette-Ratgeber erinnern und diese parodieren. Das Werk wurde von Rasheed als direkte Reaktion auf die zunehmende Sichtbarkeit von Gewalt gegen Schwarze Menschen in den Vereinigten Staaten geschaf- fen und untersucht die daraus resultierenden Erwartungen, die an diese Gemeinschaften gestellt werden, ihre Wut und ihren Schmerz zu kontrollieren, sich zu beherrschen und den Komfort anderer sicherzustellen. Auf breiterer Ebene regt das Werk die Betrachter*innen dazu an, darüber nachzudenken, wie eine solche Selbstregulierung, die von emotionalen Äußerungen bis zur körperlichen Haltung reicht, als ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung in unterdrückerischen Systemen dient. Während der Ausstellung wird diese Arbeit außerdem in ganz Berlin als Plakatserie zu sehen sein, die die Betrachtenden zu einer kritischen Reflexion des öffentlichen Diskurses über Mitgefühl und Leid anregen soll.
Künstlerinnenbiografie
Kameelah Janan Rasheed wurde in East Palo Alto, Kalifornien, geboren und lebt und arbeitet in Brooklyn, NY. Sie hat an der Stanford University (2008) einen Master in Sozialkunde für die Sekundarstufe und am Pomona College (2006) einen Bachelor in Public Policy erworben. Außerdem war sie Amy-Biehl-US-Fulbright-Stipendiatin an der University of the Witwatersrand, Südafrika (2006–2007). Rasheed beschäftigt sich mit der Poetik, dem Glück und der Politik Schwarzer Wissensproduktion, mit Informationstechnologien, dem [Ver ]Lernen und der Entstehung von Überzeugungen. Zuletzt erhielt sie den Preis für künstlerische Forschung der Schering Stiftung (2022), den Creative Capital Award (2022), den Betty Parsons Fellow-Artists2Artists Art Matters Award (2022), ein Artists + Machine Intelligence Grant – Experiments with Google (2022) und ein Guggenheim Forschungsstipendium in FineArts (2021). Rasheed ist Autorin von vier Künstlerbüchern: i am not done yet (Mousse Publishing, 2022); An Alphabetical Accumulation of Approximate Observations (Endless Editions, 2019); No New Theories (Printed Matter, 2019) und der digitalen Veröffentlichung Scoring the Stacks (Brooklyn Public Library, 2021). Ihre Texte sind in Triple Canopy, New Inquiry, Shift Space, Active Cultures und im Believer erschienen. Rasheed ist außerdem Gründerin von Mapping the Spirit, einem digitalen Archiv, das dokumentiert, wie Schwarzer Glaube lebt, sich wandelt und selbst erneuert.
Impressum
Kuratorin: Sofie Krogh Christensen
Assistenzkuratorin: Linda Franken
Produktionsleitung: Mathias Wölfing
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Installation, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbauteam: KW Aufbauteam
Registrarin: Carlotta Gonindard Liebe
Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano
Programmkoordination und Outreach: Nikolas Brummer
Presse und Kommunikation: Anna Falck-Ytter, Marie Kube
Text und Redaktion: Sofie Krogh Christensen, Kameelah Janan Rasheed
Übersetzung und Lektorat: Simon Wolff, Sylvia Zirden
Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble
Praktikant:innen: Hanar Hupka, Alexandre Kurek, Teresa Millich, Hibatolah Nassiri-Vural