Kuratorischer Text
Karen Lamassonne
Ruido / Noise
25. Februar – 14. Mai 23

 

Kurator: Krist Gruijthuijsen
Assistenzkurator: Léon Kruijswijk
Kuratorische Assistenz: Linda Franken

 

 

Ruido / Noise ist die erste internationale Werkschau der kolumbianisch-amerikanischen Künstlerin Karen Lamassonne (* 1954, USA), einer zentralen Figur der ansonsten männlich dominierten kolumbianischen Kunst- und Filmszene der 1970er- und 1980er-Jahre. Im Mittelpunkt ihres Schaffens stehen Selbstporträts und Darstellungen von Intimität. Die Ausstellung in den KW versammelt sowohl bildkünstlerische Arbeiten als auch Filme und spannt den Bogen von Lamassonnes Anfängen bis zur jüngsten Zeit. Im Zentrum steht Lamassonnes radikales langjähriges Anliegen, Frauen als aktiv begehrende Subjekte darzustellen. Viele ihrer Gemälde, Fotografien, Collagen und Videos setzen sich mit sinnlichen Aspekten des Stadtlebens in öffentlichen und privaten Räumen auseinander: vom gefliesten Badezimmer, wo sich hinter verschlossener Tür ein Zimmer für sich allein verbirgt, bis zu innerstädtischen Brücken und Parks, wo erotische Begegnungen in einer sich wandelnden soziokulturellen Landschaft stattfinden.

 

Die frühesten in der Ausstellung gezeigten Arbeiten sind Bleistiftzeichnungen und Airbrush-Gemälde mit Themen und Motiven, die Lamassonne auch später immer wieder aufgegriffen hat. Paisaje (Landschaft) aus dem Jahr 1975 gehört zu einer Serie von Airbrush-Gemälden, auf denen die Figuren im Maßstab großer Landschaften dargestellt sind. Andere frühe Zeichnungen zeigen einzelne Körperteile, die die Eigenschaften anderer Lebewesen annehmen: In Vuelo (Flug) von 1974 sind es zwei Hände in Form eines Vogels, in Conchas (Ohren) von 1974 Ohren, die wie Pflanzen aus dem Boden zu wachsen scheinen.

 

<p>Karen Lamassonne, <em>Baño azul</em>, (Blue Bathroom), 1979, From the Bathroom series, 1979, Watercolor, 76 x 56 cm © Karen Lamassonne</p>

Karen Lamassonne, Baño azul, (Blue Bathroom), 1979, From the Bathroom series, 1979, Watercolor, 76 x 56 cm © Karen Lamassonne

 

In einer frühen Aquarellserie mit dem Titel Baños (Badezimmer, 1978–1981) zeigt die Künstlerin eine nackte Frau allein in einem dekorativ gefliesten Badezimmer und in entspannter Atmosphäre. Lamassonne hat diese Gemälde oft als Selbstporträts bezeichnet, obgleich die Figur anonym bleibt. Sie ist meist von den Schultern abwärts oder von hinten zu sehen, auf der Toilette oder dem Bidet, in der Dusche oder der Badewanne. Durch die angewendete Technik der Lavierung wirken die Aquarelle zart, haben aber gleichzeitig etwas Nüchternes und Direktes. Als sie 1979 in der Galería del Club de Ejecutivos in Cali gezeigt wurden, lösten sie einen kleinen Skandal aus: Die Ausstellung musste vorzeitig beendet werden, weil sich einige der „Führungskräfte“ – Männer, die den Raum für Vorträge und Versammlungen nutzten – angesichts der an den Wänden gehängten „Obszönitäten“ nicht in der Lage sahen, ihrer Arbeit nachzugehen. Da die Bilder neben kanonisierten Beispielen der Kunstgeschichte betrachtet keineswegs anzüglich anmuten, ist es wahrscheinlicher, dass sich diese Männer von den angedeuteten Interaktionen zwischen den Frauenkörpern und den Badezimmerarmaturen aus der Ruhe bringen ließen. Im Schwebezustand zwischen ungewaschen und gewaschen bewegen sich die Figuren an einer Grenze, zu deren Überwachung man sich im Namen des weiblichen Anstands offenbar bemüßigt fühlte.

 

<p>Karen Lamassonne, <em>Biblioteca, rue des vinaigriers</em>, (The books, rue des vinaigriers), 1978, Watercolor, 76 x 56 cm © Karen Lamassonne</p>

Karen Lamassonne, Biblioteca, rue des vinaigriers, (The books, rue des vinaigriers), 1978, Watercolor, 76 x 56 cm © Karen Lamassonne

 

Viele von Lamassonnes Gemälden aus dieser Zeit zeigen häusliche, subjekthaft dargestellte Räume. Gemusterte Badezimmerfliesen, Tapeten, Heimtextilien, Bücherregale, unordentliche Waschbecken, Öfen oder Toiletten sind flach und bildhaft gehalten. Sie erwecken den Eindruck, mehr Erweiterung der Künstlerin als Stillleben zu sein. Wenn Lamassonne sich in diese Szenen eines bildlichen Inneren integriert, wird ihr Körper Teil dieser Umgebung und verbindet sich förmlich mit ihr. Dieser Effekt wird besonders deutlich, wenn sie Spiegel einsetzt, die das Bild mit vielfachen Reflektionen erfüllen. Lamassonne schuf nicht nur gemalte, sondern auch zahlreiche fotografische Selbstporträts, von denen einige an Motive aus früheren Gemälden erinnern, etwa an die Figur in der Badewanne. Manche davon haben eine komische Note, wie das Foto einer Person, die den Kopf in einen Kühlschrank steckt, oder das Selbstporträt mit einem aus einer Melone improvisierten Kleidungsstück.

 

Ihr Interesse an der Selbstdarstellung setzt sich medienübergreifend in der 1984 konzipierten Installation Ruido (Lärm) fort, die in dieser Ausstellung erstmals realisiert wird. Fünf Fernsehgeräte sind so installiert, dass ihr Licht auf mehrere um sie herum aufgestellte Gemälde fällt. Jedes davon zeigt einen im Schein des weißen Rauschens der Bildschirme leuchtenden Körper. Auf einem der Fernsehgeräte werden Videoaufnahmen abgespielt, die während eines einsamen Winters in New York entstanden sind, und in denen die Künstlerin ihre Auseinandersetzung mit öffentlichen und privaten Räumen fortsetzt. Dafür filmte sie ihren Körper in einer Vielzahl von Umgebungen und bei unterschiedlichen Temperaturen, auch im eisigen Schnee der Stadt.

 

<p>Karen Lamassonne, <em>Nel foro</em>, (At the forum), 1978, Photography © Karen Lamassonne</p>

Karen Lamassonne, Nel foro, (At the forum), 1978, Photography © Karen Lamassonne

 

Im kolumbianischen Cali formierte sich in den 1970er-Jahren eine lebhafte Filmszene um Clubs wie den Cine Club de Cali. Dieser wurde 1969 von dem Schriftsteller Andrés Caicedo ins Leben gerufen, einem damals gefeierten jungen Romanautor, der später die Filmzeitschrift Ojo al Cine (1974–76) mitgründete und leitete. Lamassonne gehörte zu einem Netzwerk von Künstler*innen und Filmemacher*innen, die als Grupo de Cali (Cali-Gruppe) bekannt wurde. Die vor allem damit assoziierten Regisseure Luis Ospina und Carlos Mayolo drehten ihren ersten gemeinsamen Film während der Panamerikanischen Spiele 1971 in Cali und wirkten an Filmen wie Agarrando Pueblo (engl. The Vampires of Poverty) von 1977 mit. Sie nahmen den Mainstream des kolumbianischen Kinos mit Filmen auf die Schippe, die sich bei beliebten B-Movie-Genres wie Horror oder Krimi bedienten, um politische Allegorien zu kreieren. Lamassonne war viele Jahre lang Ospinas Partnerin und arbeitete als Editorin, Art-Direktorin und Schauspielerin für mehrere Filme eng mit der Gruppe zusammen. Sie war unter anderem als Editorin und Schauspielerin an Carne de tu Carne (1983, engl: Bloody Flesh, Regie: Carlos Mayolo,) beteiligt. Sodann entwarf sie das Storyboard und übernahm die Art-Direktion für den Film Pura Sangre (1982, engl. Pure Blood, Regie: Luis Ospina), an dem sie auch als Regie- und Schnittassistentin mitwirkte. In der Ausstellung sind ausgewählte Szenen aus Lamassonnes Storyboard für Pura Sangre zu sehen, einem Horrorthriller über einen reichen Zuckermagnaten, der sich vom frischen Blut Ermordeter ernährt. Angeregt durch ihre Erfahrung mit Film und Storyboards begann Lamassonne, an fotografischen Serien mit narrativen Sequenzen zu arbeiten, die anonymen Körpern durch spielerische, sinnliche und ambivalente Umgebungen folgen. In der Serie Sueños Húmedos (Feuchte Träume) von 1987 hebt die Künstlerin Bildbereiche mit farbiger Kreide hervor und suggeriert so von den Figuren ausgehende Wärme oder Energie. Wie schon in einer Reihe früherer Gemälde kommen hier anonyme, für den Körper als Ganzes stehende Beine vor, die mit anderen verschlungen sind oder auf dem Boden liegen.

 

Wie sehr das Filmschaffen Lamassonnes Kunst beeinflusst hat, zeigt sich in ihren filmischen Gemälden, so beispielsweise in der Serie Cali (1989). Die Szenen mit riesigen, eine grelle Skyline dominierenden Liebenden rufen Assoziationen mit dem Film Attack of the 50 Foot Woman (Regie: Nathan Juran, 1958) auf. Diese Referenz aus der Popkultur, die Farbpalette und der Maßstab machen deutlich, welche Bedeutung B-Movie-Tropen für das Caliwood-Kino hatten, und erinnern an die frühesten Arbeiten Lamassonnes, in denen sie bereits Körper im Maßstab von Landschaften darstellte. Das auf den Gemälden prominent gezeigte Cali hatte im Vorfeld der Panamerikanischen Spiele von 1971 ein umfangreiches stadtplanerisches Projekt durchlaufen, das neue Möglichkeiten hervorbrachte, sich auf der Suche nach Vergnügen anonym durch die Stadt zu bewegen.

 

<p>Karen Lamassonne, <em>La Venida de la Ceiba</em>, (The Coming of the Ceiba), 1989 Acrylic on paper, 74 x 106 cm © Karen Lamassonne</p>

Karen Lamassonne, La Venida de la Ceiba, (The Coming of the Ceiba), 1989 Acrylic on paper, 74 x 106 cm © Karen Lamassonne

 

Seit einigen Jahren arbeitet Lamassonne ihr Archiv auf. Nach dem Tod ihres langjährigen Partners Luis Ospina im Jahr 2019 begann sie, ihre Postkartensammlung zu sichten. Die Bilder auf den Vorderseiten erweiterte sie während der Lockdowns im Jahr 2020 in surreale und überraschende Richtungen. Auf ähnliche Weise sind seitdem Zeichnungen und Skulpturen von „haarigen“ oder „monsterartigen“ Händen entstanden. Diese muten an wie fiktive Requisiten oder Kostüme aus Filmen, an denen Lamassonne in der Vergangenheit gearbeitet haben könnte. Sie nehmen aber auch Bezug auf Mythen aus dem ländlichen Kolumbien um monströse Wesen wie die „Madremonte“ oder die „Patasola“.

 

Die Ausstellung Ruido / Noise wird von Krist Gruijthuijsen kuratiert und in Zusammenarbeit mit dem Swiss Institute, New York, den KW Institute for Contemporary Art, Berlin, und dem Museo de Arte Moderno de Medellín präsentiert. Die Ausstellung wird durch die großzügige Unterstützung der Terra Foundation for American Art ermöglicht.

 

<p>Karen Lamassonne, Cannes Kisses, 2020, From the series Correspondence, 2020 Mixed media, 29 x 39 cm © Karen Lamassonne</p>

Karen Lamassonne, Cannes Kisses, 2020, From the series Correspondence, 2020 Mixed media, 29 x 39 cm © Karen Lamassonne

 

Künstlerinnenbiografie
Karen Lamassonne (* 1954, USA) lebt und arbeitet derzeit in Atlanta, GA. Geboren und aufgewachsen in einem multikulturellen und mehrsprachigen Umfeld, hat Lamassonne in den Vereinigten Staaten, Kolumbien, Frankreich, Deutschland und Italien gelebt und gearbeitet. Im Laufe ihrer Karriere als Malerin kombiniert sie andere künstlerische Medien wie Film, Video und Fotografie. Sie arbeitet auch in den Bereichen Design, Theater und Musik. Lamassonne hatte Einzelausstellungen im Museo de Arte Moderno la Tertulia, Cali (1989 und 2017), Museo Rayo, Roldanillo (2019), und Facultad de Artes ASAB, Bogotá (2019). Zu den jüngsten Gruppenausstellungen gehören Radical Women: Latin American Art, 1960-1985 im Hammer Museum, Los Angeles, im Brooklyn Museum, New York, und in der Pinacoteca, São Paulo, sowie The Art of Disobedience im Museo de Arte Moderno, Bogotá (2018), und Voces íntimas. Relatos e imágenes de mujeres artistas im Museo Nacional, Bogotá (2016-17).

 

 

Impressum

 

Kurator: Krist Gruijthuijsen

Assistenzkurator: Léon Kruijswijk

Kuratorische Assistenz: Linda Franken

Produktionsleitung: Claire Spilker

Technische Leitung: Wilken Schade

Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger

Aufbau: KW Aufbauteam

Registrarin: Monika Grzymislawska

Assistenzregistrarin: Carlotta Gonindard Liebe

Leitung Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano

Programmkoordinator und Outreach: Nikolas Brummer

Presse und Kommunikation: Anna Falck-Ytter, Marie Kube

Text und Redaktion: Laura McLean-Ferris

Übersetzung und Lektorat: Hans Georg Hiller von Gaertringen, Sabine Weier

Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble

Praktikant*innen: Marie Hütter, Janika Jähnisch, Gina Ruhlandt, Antoine Schalk, Carla Veit 

 

<p>Die Wanderausstellung wird großzügig unterstützt von der Terra Foundation for American Art.</p>

 

Die Wanderausstellung wird großzügig unterstützt von der Terra Foundation for American Art.

 

<p>Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit dem Swiss Institute, New York und dem Medellín Museum of Modern Art – MAMM präsentiert.</p>

 

Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit dem Swiss Institute, New York und dem Medellín Museum of Modern Art – MAMM präsentiert.

 

<p>Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit dem Swiss Institute, New York und dem Medellín Museum of Modern Art – MAMM präsentiert.</p>

 

Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit dem Swiss Institute, New York und dem Medellín Museum of Modern Art – MAMM präsentiert.