Kuratorischer Text
Luiz Roque
Estufa
6. Juli – 20. Oktober 2024
Kurator: Léon Kruijswijk
Kuratorische Assistenz: Lara Scherrieble
Luiz Roque – Estufa
Estufa ist die erste Überblicksausstellung über das Werk des Künstlers Luiz Roque (* 1979, BR). Roques Schaffen bewegt sich im Spannungsfeld von Expanded Cinema, bildender Kunst und kritischer Theorie. Seine künstlerische Arbeit verbindet das Interesse am Vermächtnis der Moderne mit Popkultur, queerer (Bio-)Politik und Science-Fiction. Dieser bewusst anachronistische Ansatz kulminiert in zeitlosen Montagen und Environments, die die Dringlichkeit aktueller soziopolitischer Anliegen bestimmter Gruppen und Subkulturen verdeutlichen. Seine kurzen Videos mit offenem Ende sind spekulativ und lenken den Blick der Betrachter*innen auf die vielfältigen Möglichkeiten alternativer Realitäten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen in jedem Video zu einem zeitlosen Amalgam.
Roques skulpturale Videoinstallationen erkunden den schmalen Grat zwischen Form, Farbe und Inhalt, wobei die Aufnahmetechnik sowie die Vorführ- und Präsentationsverfahren die inhaltliche Aussage unterstützen. Dieser erweiterte Gebrauch des Mediums Video schließt sich nahtlos an die architektonischen Räume an, in denen Roques Arbeiten präsentiert werden. Das Ziel des Künstlers ist ein durchdachter Austausch zwischen Architektur und Kunstwerk, in dem beide ihre Eigenständigkeit bewahren und ihre jeweiligen Grenzen sich nie vollständig auflösen.
Estufa bedeutet auf Portugiesisch „Gewächshaus“. Der Titel der Ausstellung geht auf ein gleichnamiges Kunstwerk zurück, das Roque 2004 gemeinsam mit der Künstlerin Letícia Ramos realisierte. Ein großes Gewächshaus voller tropischer Gewächse und Blumen ist sowohl Thema als auch Schauplatz des Videos. In einer Sequenz quillt purpur- und rosafarbener Rauch aus grünen Pflanzen und nimmt allmählich das gesamte Bild ein. Dann löst sich der Dunst auf und gibt den Blick frei auf Blumen von derselben Farbe wie der Rauch. Im Grenzbereich zwischen Sichtbarem und Opakem verweist das Kunstwerk auf die Spannung zwischen natürlichen und künstlichen Faktoren, die Wachstum begünstigen. Dieses früheste in der Ausstellung gezeigte Werk bildet den Rahmen für einen Rückblick auf exakt 20 Jahre künstlerischen Experimentierens und des Produzierens, der Entwicklung und des Wachstums. Zur Ausstellung erscheint die erste Monografie des Künstlers.
Das Vermächtnis von Moderne und Science-Fiction
Das Video Modern (2014) wird in den KW als Einführung in Roques Methode, das Vermächtnis der Moderne zu hinterfragen, präsentiert. In den Hallen der Tate Britain begegnet Henry Moores Bronzeplastik Recumbent Figure (Liegende Figur, 1938) dem provokanten Gegenstück einer kurvenreichen Figur, die vollständig in einen schwarzen Latexanzug gehüllt ist. Das Kleidungsstück ist eine Anspielung auf Leigh Bowery (1961–1994), eine extravagante Schlüsselfigur der Londoner Clubszene der 1980er und 90er-Jahre. Die zu dynamischer House-Musik tanzende Figur nähert sich neugierig und herausfordernd der Skultpur und verwischt dabei die Grenzen zwischen Untätigkeit und Aktivität, ikonografischer Tradition und Fetisch, Kanon und Underground. Durch die Wiedergabe des Videos auf einem 4:3-Rückprojektionsfernseher – einer rasch veralteten Technik zur Vergrößerung des Bildes aus den frühen 2000er-Jahren – wird der Installation eine zusätzliche zeitliche Ebene hinzugefügt, die das Werk noch vieldeutiger erscheinen lässt.
In dem 2005 spielenden Ano Branco (Weißes Jahr, 2013) kombiniert Roque ein dokumentarisches Format mit dystopischen Science-Fiction-Elementen. Zu Beginn des Videos spricht eine als Beatriz Preciado auftretende Person darüber, inwiefern Geschlechter-, Gender- und Sexualtechniken Bestandteile einer neuen Herrschaftsform sind. Nach einem Sprung in die Zukunft – wir sind jetzt im Jahr 2030 – wird eine Transfrau zur Protagonistin, die zunächst in goldenem Sonnenlicht beim Flirten in einer Standseilbahn zu sehen ist. Die allgemeine gesellschaftspolitische Lage scheint jedoch schlecht zu sein. In einer späteren Szene wird die Frau dann in einer nicht näher bezeichneten Klinik von einem Roboter behandelt. Ein Text erklärt, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO Störungen der Geschlechtsidentität inzwischen aus der Liste medizinischer Klassifikationen gestrichen hat und Trans-Personen daher Alternativen zur diesbezüglichen medizinischen Versorgung finden müssen. Mit dieser Arbeit drückt der Künstler seine Besorgnis über die prekäre Lage emanzipierter Haltungen in einer vom globalen Aufstieg des Populismus geprägten politischen Landschaft aus und veranschaulicht, welche konkreten Folgen der zunehmende Einfluss regressiver Diskurse haben könnte.
Realitäten schaffen
Die Weltordnung in Zero (2019) gestaltet sich ganz anders. Der Protagonist, ein Hund mit dichtem Fell, fliegt in einem luxuriösen Privatjet allein durch eine Wüstenlandschaft. Um 12.01 Uhr klappt ein Futterautomat auf und serviert dem Hund eine einzige Tablette, was die Ambiguität des Universums unterstreicht, in dem das Tier umherreist. Um was für eine Welt auch immer es sich handeln mag, auf jeden Fall scheint es kein menschliches Leben darin zu geben. Nachdem eine Fata Morgana von Wolkenkratzern am Wüstenhorizont auftaucht, sind anschließend Großaufnahmen von Hochhäusern mit verspiegelten Fenstern zu sehen, die die Gebäude zu gleichberechtigten Protagonisten machen. Zero verweist auf ein starres und dennoch offenes Hier und Jetzt, auf einen grundlegenden Neuanfang mit alternativer Machtverteilung. Die Arbeit veranschaulicht außerdem Roques nichthierarchischen Umgang mit seinen Protagonist*innen. Diese können wie in diesem Film und in Urubu (Rabengeier, 2021) Tiere und Gebäude sein oder wie in Modern Kunstwerke und Menschen. Sie sind insofern gleichberechtigt, als sie in den Welten des Künstlers dieselbe Bedeutung haben.
Roques Faszination für (post-)moderne und brutalistische Architektur wird in den KW unter anderem in der Installation Zero deutlich. Die Glaswand mit der Projektion gibt den Blick auf Tegeler Weg (1984/2005) frei, eine ortsbezogene Installation von Olaf Metzel in den KW, die während anderer Ausstellungen häufig verdeckt wird. Im Kontext von Roques Arbeiten können die Betonbausteine dieser Installation lose mit modernen Bauweisen in Brasilien in Verbindung gebracht werden, die im äquatorialen bzw. (sub-)tropischen Klima der Verbindung von Innen- und Außenräumen dienen. Die Schwere, die diesen Bauformen oft eigen ist, wird in dem hohen trapezförmigen Sockel von Estufa spürbar, den Roque 2019 für das Werk entwickelte. Dieses plastische Element besitzt eine unergründliche Präsenz, die etwa mit der einer massiven brutalistischen Säule vergleichbar ist.
Luiz Roques umfassende Auseinandersetzung mit Architektur und Bildhauerei, mit Farbe und Form, schlägt sich in kleinerem Maßstab auch in seinen Keramikarbeiten nieder. Einige von ihnen existierten bereits, andere wurden für die Ausstellung in den KW in Auftrag gegeben, so dass dieser Teil von Roques Arbeit hier zum ersten Mal institutionell präsentiert wird. In den intuitiv gestalteten Keramikarbeiten spiegelt sich die Faszination des Künstlers für unheimliche und traumartige Stimmungen. Auch wenn das Medium auf den ersten Blick in starkem Gegensatz zum Medium der Bewegtbilder steht, sieht der Künstler Ähnlichkeiten zwischen den Herstellungsprozessen von Keramik und analogem Film, vor allem im Hinblick auf zeitlichen Ablauf und chemische Prozesse. In beiden Fällen muss das Grundmaterial „gebrannt“ werden und bleibt das endgültige Ergebnis bis zum Ende des Produktionsprozesses ungewiss.
Auch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Aufnahmetechniken ist Teil von Luiz Roques künstlerischem Verfahren. In seiner bisherigen Laufbahn hat er verschiedene Techniken erprobt und eingesetzt, darunter 4K‑, HD‑, Super‑8- und 16‑Millimeter-Kameras. Der Film DAS MONSTER (2009), bei dem das Aufnahmeverfahren die Unheimlichkeit einer ambivalenten Szene noch verstärkt, ist ein herausragendes Beispiel für diese Experimente. Der auf Super-8 gedrehte und auf 16 Millimeter vergrößerte Film zeigt eine vollständig in einen goldenen Umhang gehüllte Gestalt, die sich durch eine hügelige und bewaldete Seenlandschaft bewegt. Die monströse Erscheinung der Hauptfigur bleibt jedoch rätselhaft. Die Erzählung ist auch hier wieder déjà-vu-artig evokativ und endet offen. Auch mit Geometria Descritiva (Beschreibende Geometrie, 2012) erkundet Roque die Möglichkeiten der Videokamera und schafft eine Bewegungsdichte, die an Fotografie erinnert. Die Handlung findet auf einem üppig bewachsenen Hügel statt: Eine Metallkugel wird auf eine Glasplatte geworfen, die daraufhin in tausend Stücke zerspringt. Das Ganze wird rückwärts abgespielt und von Geräuschen begleitet, die die Spannung noch verstärken. Die detailgetreue Videoaufnahme dieses Augenblicks und die hohe Zahl von Einzelbildern sind nur durch den Einsatz digitaler Filmtechnik möglich.
In der Haupthalle der KW wird eine dreiteilige Filmchoreografie gezeigt, die das Publikum in andere, überzeitliche Welte entführt. S (2017) beginnt mit einer Aufnahme des Cubo Vazado (Hohlwürfel, 1951) von Franz Weissmann. Anschließend führen drei androgyne Performer*innen in einem leeren U‑Bahn-Waggon und einem Tunnel ihre Tanzkünste vor, als versuchten sie, Freiräume in der modernen Gesellschaft zu finden, in denen sie ihr extravagantes Selbst am besten zur Geltung bringen können. República (2020) ist eine poetische Meditation über queeres Leben, Biopolitik, Migration und Bewegung, die um den gleichnamigen, lebendigen Stadtteil und das markante Copan-Gebäude im Zentrum von São Paulo kreist. Um die Geschichten bestimmter Subkulturen und Gemeinschaften darzustellen, verwendet Roque bei diesen beiden Videos ungewöhnliche quadratische und kreisförmige Bildformate. Das neu in Auftrag gegebene Video Clube Amarelo (Gelber Club, 2024) kombiniert 16‑Millimeter- und HD-Film und zeigt Menschen, die sich in einer Sauna am Meer zusammenfinden, um im Licht der Sonne und des Mondes zu baden, nachdem sie Kontakt mit nichtmenschlichen Arten hatten und pharmakologische Substanzen eingenommen haben. Ihr jenseitiger Daseinszustand überschreitet jedes vorstellbare Maß. Es bleibt unklar, ob Roque diesen Zustand als erstrebenswert ansieht oder nicht.
Mit Dank an die Bildhauerwerkstatt im Kulturwerk des bbk berlin GmbH
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