morale provisoire Gespräch #3: Alberto Toscano. Ein Skalpell und ein Kompass: Morale provisoire und cognitive mapping

 

 

21. September 10

 

 

morale provisoire Gespräch #3
Alberto Toscano. Ein Skalpell und ein Kompass: Morale provisoire und cognitive mapping
21.09.2010, 19 Uhr

In den 1980er und 90er Jahren machte Frederic Jameson eines der Symptome des postmodernen Wissens in der Unfähigkeit aus, wirkungsvolle situative Darstellungen zu erbringen, die es erlaubten, Handlungen innerhalb der sozialen Totalität zu situieren und zu orientieren. Zudem umriss er eine bis dahin noch nicht existierende 'Ästhetik des cognitive mapping' (einen Begriff, den er später als gleichbedeutend mit dem des Klassenbewusstseins enthüllte), welche die Aufgaben der Totalisierung und strategischen Darstellung beziehungsweise der Figuration auf sich nähme. Ist eine Ästhetik der Totalität (und der Ökonomie, vielleicht mehr als eine der Politik,) eine unabdingbare Voraussetzung für bedeutungsvolles politisches Handeln? In welchem Maße stellt das Wiederaufkommen von Politikmodellen auf der Basis des Axiomatischen, der Entscheidung, des Prinzips oder der Parteilichkeit ein Symptom für das Scheitern des cognitive mapping beziehungsweise eine Möglichkeit dar, das Verhältnis zwischen Taktik, Ethik und Totalität neu zu denken? Können wir ethischem Dualismus oder politischem Fatalismus als der doppelten Reaktion auf das Scheitern des cognitive mapping entgehen? Alberto Toscano geht in seinem Vortrag nicht nur diesen Fragen, sondern auch den ästhetischen bzw.  repräsentationalen Aspekten der morale provisoire nach, indem er sich einigen jüngeren Darstellungsweisen des Kapitalismus als Totalität zuwendet und außerdem die Dialektik von (ethischer) Entscheidung und (ökonomischem) System anhand von Texten des jungen Lukács, Theaterstücken Sartres und Badious neueren Gedanken zur Idee des Kommunismus abschreitet.

Alberto Toscano ist Senior Lecturer in Soziologie am Goldsmiths College, University of London. Er ist der Verfasser der beiden Bücher On the Uses of an Idea (Verso, 2010) sowie The Theatre of Production: Philosophy and Individuation Between Kant and Deleuze (Palgrave, 2006). Alberto Toscano ist Mitglied des redaktionellen Beirats der Zeitschrift Historical Materialism.

Im Anschluss an den Vortrag findet ein Gespräch mit Alberto Toscano, Frank Ruda und Jan Völker statt.
Die Veranstaltung findet in englischer Sprache statt. Der Eintritt ist frei.

morale provisoire Gesprächsreihe
Descartes gibt das Beispiel der Reisenden, die in einem Wald die Orientierung verloren haben. Wollen sie nicht an der gleichen Stelle verharren oder aber orientierungslos umherirren, benötigen sie eine "morale par provision", die ihre Schritte anleitet. Eine "morale provisoire" versucht entschlossen eine Richtung zu verfolgen, sie befragt das Denken auf orientierende Regeln für die Praxis. Sich im Denken zu orientieren, heißt mit Kant, sich nach dem subjektiven Prinzip der Vernunft zu orientieren. Dies bedeutet dann, wie Rousseau, zunächst das beiseite zu lassen, was als Tatsache gilt: das Bestehende, seien es Körper oder Sprachen, Individuen oder Gemeinschaften, das die Maximen der Zeit heute preisen. Ihnen setzt Badiou die Idee einer subjektiven Orientierung des Subjekts entgegen, die von einem Punkt der Unmöglichkeit aus ihren Weg nimmt. Die Reihe morale provisoire richtet sich gegen Libertäre, Liberale, Sophisten und Sozialchauvinisten unserer Zeit und versucht, orientierende Interventionen für die Praxis und das Denken zu versammeln. Sie zielt auf einen neuen Mut des Denkens, der dem Unmöglichen, dem Unendlichen, dem Gleichen und dem Illegitimen sein Recht zuspricht. Morale provisoire ist an einem Jakobinismus des Denkens orientiert, der auf seinem Weg aus der Desorientierung seine Feinde je neu bestimmt.

In der morale provisoire Gesprächsreihe werden in unregelmäßigen Abständen militante Denker eingeladen, deren Arbeiten in einem Bezug zu den Fragen der morale provisoire gelesen werden können. Mit den Gesprächspartnerinnen und –partnern soll erläutert werden, inwiefern und ob eine "morale provisoire" heutzutage als Konzept des Denkens – und darüber des alltäglichen Handelns – möglich und nötig ist oder aber nicht. Wie sind in einer Zeit, die sich als Zeit der allgemeinen Desorientierung begreifen lässt, subjektive Orientierungen möglich? Inwiefern lässt sie sich als Zeit der Desorientierung verstehen? Welche Mittel der Analyse stehen uns zu Verfügung? Inwiefern müssen subjektive Orientierungen von Unmöglichkeit der Situationen ausgehen? Wie sind solche Punkte zu beschreiben, was sind ihre Bedingungen und Voraussetzungen? Was wären Figuren, Punkte, Mittel und Methoden einer solchen "morale provisoire" und wo und wie erkennt sie ihre Feinde? Wie orientiert man sich weniger an Beschreibungen der Desorientierung denn an Analysen unmöglicher Ausgangspunkte neuer Wege und Formen? Die eingeladenen Gäste sind nicht Philosophen allein, sondern Freunde, deren Arbeiten um eine oder mehrere Bedingungen der Philosophie zirkulieren – Kunst, Liebe, Politik, Wissenschaft.

Die Gesprächsreihe morale provisoire in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin erweitert eine gleichnamige Buchreihe im Merve Verlag, die von Frank Ruda und Jan Völker herausgegeben wird. In Zusammenarbeit mit dem Verlag und den Herausgebern verpflichtet sie sich in regelmäßigen Abständen der zeitgenössischen Dringlichkeit Orientierungen in Fragen der Wissenschaft, Politik, Kunst und Liebe zu versammeln und ihre Einsätze auf dem Feld der Philosophie zu bestimmen.

Projektleitung KW Institute for Contemporary Art: Anke Schleper