morale provisoire Gespräch #4. Jelica Šumič Riha: Das 21. Jahrhundert hat noch nicht begonnen

 

 

16. November 10

 

 

morale provisoire Gespräch #4
Jelica Šumič Riha: Das 21. Jahrhundert hat noch nicht begonnen
16.11.2010, 19 Uhr

Es geht um nichts weniger als darum, die Möglichkeit von Politik in der heutigen Welt nach dem Untergang des Marxismus zu untersuchen, in der nur ein einziger überlebender Akteur regiert: das neoliberale Denken. Der Vortrag sucht zunächst nach einer Antwort auf die Frage, inwiefern Badious Versuch, den gegenwärtigen Nihilismus einer „Politik ohne Politik“ damit zu bekämpfen, der kommunistischen Hypothese in der Zeit der vollständigen Hegemonie des Kapitalparlamentarismus Existenz zu verleihen, ein anderes Politikverständnis eröffnet. Ein Politikverständnis, für das die Beziehung zwischen Ewigkeit und Wandel konstitutiv ist. Im zweiten Schritt untersucht der Vortrag Badious Begriff der „morale provisoire“ für die „weltlosen“ Zeiten und zeigt, dass dieser Begriff, der die Kräfte der Philosophie mobilisiert, einen Referenzrahmen für eine radikal neue Geschichtsauffassung bietet: den der Ewigkeit.

Jelica Šumič Riha ist Philosophieprofessorin an der Universität von Nova Gorica, Senior Research Fellow am Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Philosophie in Ljubljana und Leiterin des Graduiertenkollegs der Universität von Nova Gorica. Sie war Gastprofessorin an der University of Essex (1994-1998) und der Universität Paris 8 (2003-2004) und sie hielt Seminare am Pariser Collège International de Philosophie. Sie hat eine Reihe philosophischer Texte und Bücher veröffentlicht, darunter Politik der Wahrheit (mit Alain Badiou, Jacques Rancière und Rado Riha; Hrsg. Rado Riha; Turia + Kant, Wien 1997), Universel, Singulier, Sujet (mit Alain Badiou u.a.; Kimé, Paris 2000), Mutations of Ethics (Založba ZRC 2002), Philosophy, psychanalyse: alliance ou misalliance (FV-2006); What is to Live?/Qu’est-ce que vivre? (FV-2009) sowie Les pouvoirs des desires indicibles (gemeinsam mit Jean-Pierre Marcos; FV-2010). Derzeit arbeitet sie an dem Band Volonté et désir (Harmattan, Paris 2010), ihrem Buch De l’Autre au Même (Horlieu, 2011) sowie an dem Band Ethics of Silence (Založba ZRC, 2010).

Im Anschluss an den Vortrag findet ein Gespräch mit Jelica Šumič Riha, Frank Ruda und Jan Völker statt.
Die Veranstaltung findet in englischer Sprache statt. Der Eintritt ist frei.

morale provisoire Gesprächsreihe
Descartes gibt das Beispiel der Reisenden, die in einem Wald die Orientierung verloren haben. Wollen sie nicht an der gleichen Stelle verharren oder aber orientierungslos umherirren, benötigen sie eine "morale par provision", die ihre Schritte anleitet. Eine "morale provisoire" versucht entschlossen eine Richtung zu verfolgen, sie befragt das Denken auf orientierende Regeln für die Praxis. Sich im Denken zu orientieren, heißt mit Kant, sich nach dem subjektiven Prinzip der Vernunft zu orientieren. Dies bedeutet dann, wie Rousseau, zunächst das beiseite zu lassen, was als Tatsache gilt: das Bestehende, seien es Körper oder Sprachen, Individuen oder Gemeinschaften, das die Maximen der Zeit heute preisen. Ihnen setzt Badiou die Idee einer subjektiven Orientierung des Subjekts entgegen, die von einem Punkt der Unmöglichkeit aus ihren Weg nimmt. Die Reihe morale provisoire richtet sich gegen Libertäre, Liberale, Sophisten und Sozialchauvinisten unserer Zeit und versucht, orientierende Interventionen für die Praxis und das Denken zu versammeln. Sie zielt auf einen neuen Mut des Denkens, der dem Unmöglichen, dem Unendlichen, dem Gleichen und dem Illegitimen sein Recht zuspricht. Morale provisoire ist an einem Jakobinismus des Denkens orientiert, der auf seinem Weg aus der Desorientierung seine Feinde je neu bestimmt.

In der morale provisoire Gesprächsreihe werden in unregelmäßigen Abständen militante Denker eingeladen, deren Arbeiten in einem Bezug zu den Fragen der morale provisoire gelesen werden können. Mit den Gesprächspartnerinnen und –partnern soll erläutert werden, inwiefern und ob eine "morale provisoire" heutzutage als Konzept des Denkens – und darüber des alltäglichen Handelns – möglich und nötig ist oder aber nicht. Wie sind in einer Zeit, die sich als Zeit der allgemeinen Desorientierung begreifen lässt, subjektive Orientierungen möglich? Inwiefern lässt sie sich als Zeit der Desorientierung verstehen? Welche Mittel der Analyse stehen uns zu Verfügung? Inwiefern müssen subjektive Orientierungen von Unmöglichkeit der Situationen ausgehen? Wie sind solche Punkte zu beschreiben, was sind ihre Bedingungen und Voraussetzungen? Was wären Figuren, Punkte, Mittel und Methoden einer solchen "morale provisoire" und wo und wie erkennt sie ihre Feinde? Wie orientiert man sich weniger an Beschreibungen der Desorientierung denn an Analysen unmöglicher Ausgangspunkte neuer Wege und Formen? Die eingeladenen Gäste sind nicht Philosophen allein, sondern Freunde, deren Arbeiten um eine oder mehrere Bedingungen der Philosophie zirkulieren – Kunst, Liebe, Politik, Wissenschaft.

Die Gesprächsreihe morale provisoire in den KW Institute for Contemporary Art in Berlin erweitert eine gleichnamige Buchreihe im Merve Verlag, die von Frank Ruda und Jan Völker herausgegeben wird. In Zusammenarbeit mit dem Verlag und den Herausgebern verpflichtet sie sich in regelmäßigen Abständen der zeitgenössischen Dringlichkeit Orientierungen in Fragen der Wissenschaft, Politik, Kunst und Liebe zu versammeln und ihre Einsätze auf dem Feld der Philosophie zu bestimmen.

Projektleitung KW Institute for Contemporary Art: Anke Schleper