Kuratorischer Text
Pia Arke
Arctic Hysteria
6. Juli – 20. Oktober 2024

 

Kuratorin: Sofie Krogh Christensen

Wissenschaftlicher Volontär und Kuratorische Assistenz: Aykon Süslü

 

Die KW präsentieren in Zusammenarbeit mit John Hansard Gallery in Southampton (UK) die erste Einzelausstellung der Künstlerin Pia Arke (1958–2007) außerhalb von Kalaallit Nunaat (Grönland) und den nordischen Ländern.

 

Vom Ende der 1980er bis in die frühen 2000er-Jahre beschäftigte sich Arke mit den komplexen Fragen von Identität, Erinnerung und Repräsentation im Verhältnis zwischen Dänemark und Grönland. Ihr Fotografie, Performance, Text, Collage, Skulptur und Video umfassendes Werk entstand aus dem Bedürfnis, die Geschichte ihrer Familie während der dänischen Kolonisation zu verorten. Wie Arke selbst erklärte, geht es in ihren Bildern um das Schweigen, das die Beziehungen zwischen Grönland und Dänemark prägt, und darum, wie sie in dieses Schweigen hineingeboren wurde. Als Tochter einer Inuk-Mutter und eines dänischen Vaters entwickelte sie eine Identität, die sich weder als dänisch noch als grönländisch definieren ließ. In ihre Arbeiten wob sie biografische Elemente ein und griff gleichzeitig auf unterschiedliche historische, einheimische und archivalische Quellen zurück.

 

In den postkolonialen Kreisen der nordischen Länder und zirkumpolarer Regionen gilt Arke als wegweisende künstlerische Stimme, doch von der etablierten dänischen Kunstszene und der breiteren Öffentlichkeit wurde ihr Werk zu Lebzeiten kaum wahrgenommen. Da Grönland, wenn auch als autonome Region, immer noch Teil des Königreichs Dänemark ist, bleibt Arkes Werk von grundlegender Bedeutung für die Diskussion über die andauernde dänische Präsenz in der Arktis und für das zeitgenössische dekoloniale Denken in Nordeuropa und Grönland.

 

Die Ausstellung Arctic Hysteria (Arktische Hysterie) in den KW versammelt eine Auswahl von über 100 Werken Pia Arkes, um sie und ihre Narrative einem breiteren internationalen Publikum zugänglich zu machen. Die beiden ersten Stockwerke der KW bieten eine dekonstruierte Architektur, die Arkes System von Sichtachsen und den Fokus auf das Dazwischen kritisch offenlegt. Der Titel der Ausstellung geht auf Arkes wichtige Werkreihe aus den Jahren 1996 und 1997 zurück und thematisiert ihren Fokus auf den Zustand und die Rolle des (weiblichen) Inuit-Körpers sowie den Einsatz performativer Strategien wie Montage, Inszenierung und Reenactment, mit denen sie versuchte, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen und zur kritischen Selbstreflexion anzuregen.

 

<p>Pia Arke, <em>De tre gratier (The Three Graces),</em> Fotografie, 1993. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Kunstmuseum Brandts © Pia Arke Estate.</p>

Pia Arke, De tre gratier (The Three Graces), Fotografie, 1993. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Kunstmuseum Brandts © Pia Arke Estate.

 

Pia Arke, geborene Gant, wurde 1958 in Kap Tobin (heute Uunarteq) bei Scoresbysund (heute Ittoqqortoormiit) an der Nordostküste Grönlands geboren. Nach ihren frühen Jahren in Ittoqqortoormiit zog sie mit der Familie im Land umher, weil ihr Vater als Telegrafist arbeitete. Zwischen 1962 und 1987 wohnte sie mit zeitweiligen Unterbrechungen, die sie in dänischen Internaten verbrachte, in Thule (heute Dundas, Qaanaaq) im Norden, in Narsaq im Süden und in Nuuk im Westen. 1983 änderte die Künstlerin ihren Namen in Arke, eine leichte Abwandlung von Arqe, dem Geburtsnamen ihrer Mutter. Nachdem sie nach Kopenhagen umgezogen war, schrieb sie sich 1987 an der Königlich Dänischen Kunstakademie ein, um Malerei und Fotografie zu studieren.

 

Aus Interesse an Politik und kolonialen Machtstrukturen, die der Kamera und ihrer Art der Bilderzeugung innewohnen, baute Arke 1990 in Handarbeit ein Kamerahaus – eine an ihre spezifischen Körpermaße angepasste Camera Obscura –, um sie an die Orte ihrer Kindheit in Grönland und Dänemark zu bringen. Es gelang ihr, dieses Kamerahaus nach Nuugaarsuuk Point in der Nähe von Narsaq zu transportieren, wo sie das ikonische Panorama aufnahm, das zur charakteristischen Kulisse für viele ihrer Performances und inszenierten fotografischen Schichtungen wurde, vor allem für das Schlüsselwerk Self-Portrait (Selbstporträt, 1992).

 

Von entscheidender Bedeutung war es dabei für Arke, den Apparat selbst betreten und so ein physischer Teil des Bildherstellungsprozesses werden zu können – ein Akt der Rückeroberung der Fotografie, die historisch eine koloniale Archivierungstechnik der Polarforscher*innen gewesen war. In ihrem Kopenhagener Atelier inszenierte sie sich vor den großformatigen Abzügen und schlüpfte dabei in unterschiedliche Rollen: die einer stoischen Statue, die in The Three Graces (Die drei Grazien, 1993) mit ethnografischen Gegenständen posiert, oder in Untitled (Put your kamik on your head so everyone can see where you come from) (Ohne Titel – Setz dir deinen Kamik auf den Kopf, damit jeder sehen kann, woher du kommst, 1993) die des ungehorsamen kolonialen Subjekts mit einem traditionellen Inuit-Stiefel auf dem Kopf.

 

<p>Pia Arke, <em>Untitled (Put your kamik on your head, so everyone can see where you come from)</em>, Fotografie, 1994. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Malmö Konstmuseum © Pia Arke Estate.</p>
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Pia Arke, Untitled (Put your kamik on your head, so everyone can see where you come from), Fotografie, 1994. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Malmö Konstmuseum © Pia Arke Estate.

 

 

Die erste Ausstellungsebene widmet sich den zentralen Elementen der performativen Kamera und des montierten menschlichen Körpers in Arkes Arbeit. Die Körper in ihren Werken sind meist die von Inuit-Frauen, die wie Arke sowohl Subjekte als auch Objekte sind, also aktive und passive Protagonistinnen der Kolonialgeschichte. Während des Recherche- und Produktionsprozesses wechselte Arke bewusst zwischen den Rollen der Künstlerin, der Ethnografin und der Forscherin und integrierte diese vergessenen Körper und ihre zum Schweigen gebrachten Stimmen in die Geschichte.

 

Nach ihrem Studienabschluss 1995 arbeitete Arke am Fachbereich für Theorie und Kommunikation der Akademie. In jener Zeit schrieb und veröffentlichte sie ihre Dissertation und ihren wegweisenden Text Etnoæstetik (Ethno-Ästhetik, 1995). Ebenso wie sie die Kamera mit ihrem eigenen Körper zurückeroberte, bemächtigte sich Arke auch wieder dieses Begriffs der „Ethno-Ästhetik“, der bis dahin von dänischen Kunsthistoriker*innen für Kunst aus Grönland verwendet worden war. Als dänisch-grönländischer „mongrel“ (Mischling), wie sie selbst sich bezeichnete, wollte Arke der binären Logik entkommen, entweder ethnografisches Subjekt oder Objekt zu sein. Sie wollte einen „dritten Standort“ schaffen, von dem aus sie sprechen und die euroamerikanisch-ethnozentrische Weltsicht durchbrechen konnte; eine Position, von der aus sich essenzialistisches Denken im Bereich der Kultur dekonstruieren ließ – wie etwa in ihrer Videoarbeit Arctic Hysteria (1996), in der Arke nackt über einen Abzug des Nuugaarsuuk-Panoramas kriecht und ihn dann zerreißt.

 

Im Archiv des Explorers Club in New York im Jahr 1995 stieß Arke auf eine Akte mit dem Titel „Pibloctoq – Arctic Hysteria“ (Pibloctoq – Arktische Hysterie). Darin fand sie das Foto einer Inuk, die von weißen männlichen Forschern festgehalten wurde. Weil das Bild so heikel war, wurde ihr nicht erlaubt, es zu kopieren. Für Arke folgten der Übergriff auf die Frau, die Anfertigung des Fotos und die spätere Zensur demselben Muster generationenübergreifender kolonialer Gewalt, sodass dieses Ereignis zu einem zentralen Moment in ihrer Arbeit wurde. Sie betraf nicht nur ihr fotografisches Werk über den weiblichen Körper als Landkarte und Archiv, sondern zeigte auch die Wandlungsfähigkeit von Archiven als Narrative, die der ständigen Kontrolle paternalistischer kolonialer Strukturen unterlagen, was wiederum Auswirkungen auf den weiblichen Körper hatte. In der Folge intensivierte Arke ihre Spurensuche in Archiven. Die zweite Ebene der Ausstellung zeichnet diesen Kartierungsprozess sowie die Konstruktion und Dekonstruktion kolonialer und persönlicher Archive nach. 

 

1997 kehrte Arke nach 35 Jahren zum ersten Mal nach Ittoqqortoormiit zurück. Es war eine einschneidende Erfahrung, die zugleich den Beginn ihrer bis dahin umfassendsten und persönlichsten Forschungsarbeit darstellte, die sich mit der Geschichte der kleinen Kolonie und den Berichten über diese befasst. Als Ittoqqortoormiit 1924 gegründet wurde, deportierten die dänischen Behörden 87 Personen aus Tasiilaq (damals Ammassalik), um die neue Ortschaft zu besiedeln. Zu den Angesiedelten gehörten auch Arkes Großeltern mütterlicherseits. Die Deportation stand im Zusammenhang mit dem dänischen Ziel, in einem anhaltenden Territorialkonflikt mit Norwegen, das seit dem Zusammenbruch der dänisch-norwegischen Union im Jahr 1814 koloniale Ansprüche geltend machte, die Herrschaft über Nordostgrönland zu erlangen. 1933 wurde Dänemark in einem internationalen Gerichtsverfahren in Den Haag (NL) die vollständige koloniale Kontrolle über Grönland zugesprochen.

 

Ittoqqortoormiit wurde zu einem wichtigen Beispiel für Arkes Verknüpfung des Persönlichen mit dem Politischen. Aus ihren Recherchen gingen zahlreiche Werke hervor, darunter die Bricolage-Serie Legend I–V (Legende I–V, 1999), in der sie alte dänische geologische Karten mit gefundenen Bildern ihrer Mutter und Kolonialwaren übereinanderschichtet – ein kritischer Verweis auf die koloniale Vermischung von Wissenschaft, Kapitalismus und persönlicher Geschichte.

 

<p>Pia Arke, <em>Legende III, </em>Collage, 1999. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Louisiana Museum of Modern Art © Pia Arke Estate.</p>

Pia Arke, Legende III, Collage, 1999. Courtesy Pia Arke Estate. Sammlung Louisiana Museum of Modern Art © Pia Arke Estate.

 

In den darauffolgenden Jahren lernte Arke bei zahlreichen Besuchen in ihrem Geburtsort ihr zuvor unbekannte Familienmitglieder persönlich kennen. Sie befragte außerdem die anderen Bewohner*innen der Stadt, die zum Schweigen gebracht und vergessen worden waren, um auch ihre Geschichten aufzuarbeiten. Akribisch setzte sie deren persönliche Berichte zu einem Patchwork aus Familienbeziehungen, Erinnerungen und ungeklärten Fragen zusammen. Aus ihren ausgedehnten Recherchen gingen 2003 das Buch Scoresbysundhistorier. Fotografier, kolonisering og kortlægning (Geschichten aus Scoresbysund. Fotografien, Kolonialismus und Kartierung, 2010 unter dem Titel Stories from Scoresbysund. Photographs, Colonisation and Mapping auf Englisch erschienen) und die Collagearbeit Dummy (1997/2003) hervor. Dummy entstand nach dem Druck des gebundenen Buches und enthält Arkes Notizen und Überarbeitungen, die die Betrachtenden am Schreibprozess teilhaben lassen und verdeutlichen, dass die Geschichte von Ittoqqortoormiit – und jene von ganz Grönland – vielleicht nur als fortlaufender Prozess dargestellt werden kann. Sie bleibt unabgeschlossen, ist aber gleichzeitig eine konstruierte Geschichte. Im Jahr 2007 starb Pia Arke frühzeitig an Krebs.

 

Arkes künstlerische Praxis entwickelte sich aus der Verbindung zwischen Grönland und Dänemark. Sie offenbart sich als grundlegende Kritik daran, wie Geschichte und Identität konstruiert werden. Gleichzeitig ist die Kritik feministisch: im Zentrum stehen Erzählungen von Frauen, die Identität über Wissenstraditionen hinweg strukturell aushandeln und die fortbestehenden kolonialen Beschränkungen aufdecken, welche die Frauen zum Schweigen verurteilen. Diese Frauen bilden eine Art von gemeinsamem Resonanzraum, der den Kontrast zwischen Fotos und Geschichten über grönländische Inuit einerseits und Fotos und Geschichten von grönländischen Inuit andererseits deutlich macht. Indem sie diese narrativen Verschiebungen vor Augen führt, tritt Arke für das persönliche Recht auf Fotografie und damit auch auf eigenständige Selbstdarstellung und Geschichtsschreibung ein.

 

Zur Ausstellung ist eine umfangreiche Publikation mit eigens dafür verfassten Texten erschienen, die Arkes Arbeit in einem größeren, internationalen Diskurs verorten.

 

 

Die Ausstellung in den KW wird gefördert durch die New Carlsberg Foundation.

 

<p>Die Ausstellung und die zugehörige Publikation werden in Zusammenarbeit mit John Hansard Gallery, Southampton (UK) realisiert.</p>

 

Die Ausstellung und die zugehörige Publikation werden in Zusammenarbeit mit John Hansard Gallery, Southampton (UK) realisiert.