Kuratorischer Text
Poetics of Encryption
17. Februar – 26. Mai 2024

 

Kurator: Nadim Samman

Assistenzkuratorin: Linda Franken

Kuratorische Assistenz: Lara Scherrieble

Ausstellungsarchitektur: Jürgen Mayer H. / J. MAYER H. und Partner, Architekten

 

Poetics of Encryption

 

Gott ist eine unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgendwo ist.

Nikolaus von Kues

 

Wir verlassen uns in vielerlei Hinsicht auf digitale Technologien, begreifen aber nur selten, wie sie tatsächlich funktionieren. Tieferes Verständnis bleibt uns oft verwehrt. Einerseits weil firmeneigene Technologien von der Tech-Branche bewusst geschützt werden und andererseits, weil es schlicht unmöglich ist nachzuvollziehen, wie eine Künstliche Intelligenz (KI) einen bestimmten Output generiert. Diese undurchschaubaren Systeme betreffend sind wir also zu Unwissenheit und Machtlosigkeit verdammt. Wie schlägt sich diese Spannung in der Kunst nieder?

 

<p>Most Dismal Swamp, <em>Scraper</em>, Video Still, Detail, 2023. Courtesy der Künstler.</p>

Most Dismal Swamp, Scraper, Video Still, Detail, 2023. Courtesy der Künstler.

 

Die Gruppenausstellung basiert auf dem vor Kurzem erschienenen Buch Poetics of Encryption: Art and the Technocene von Nadim Samman. Sie betrachtet die „crypt“ (Krypta, Gruft) in „encryption“ (Verschlüsselung) näher und erkundet eine imaginäre Landschaft, die von Black Sites, Black Boxes und Black Holes – geheimen Orten, intransparenten Systemen und Schwarzen Löchern – geprägt ist. Dabei weisen bereits diese Begriffe darauf hin, wie sehr technische Systeme die Nutzer*innen in ihren Bann ziehen, wie sie im Verborgenen wirken und wie sie Raum und Zeit in der Kultur verzerren.

In drei Kapiteln und über alle Stockwerke der KW verteilt setzt sich die Ausstellung mit diesen Themen auseinander. Dabei pendelt sie zwischen aufklärerischem Interesse und okkulter Träumerei.

 

Jedes Kapitel präsentiert ein spekulatives Modell, in dem ein intelligentes menschliches Wesen mit der Sphäre der digitalen Geheimnisse und versteckten Mechanismen interagiert. Unter dem Titel Black Site sind Werke versammelt, die sich mit dem Phänomen beschäftigen, locked in zu sein – gefangen oder eingeschlossen also, beerdigt in einem technologischen Grab. Das Kapitel Black Box erkundet Vorstellungen von Künstler*innen rund um das Gefühl, intellektuell aus omnipräsenten Tech-Produkten und Kontrollsystemen ausgeschlossen zu sein – locked out. Und schließlich untersucht Black Hole, wie extrem kompakte digitale Archive und Rechenprozesse die Trennung zwischen innen und außen (locked down), vor und nach, Sinn und Unsinn aufheben.

 

Im latenten Raum zwischen Exklusion, Okklusion, Geheimhaltung, Erforschung und Spekulation in Bezug auf das Innere von Technologien entfaltet sich eine neue Poetik der Verschlüsselung.

 

Die Ausstellung präsentiert neue und bestehende Arbeiten von über 40 internationalen Künstler*innen, die mit analogen und digitalen Medien arbeiten.

Sie sind in eine Rauminstallation von Jürgen Mayer H. / J. MAYER H. und Partner, Architekten eingefasst. Eine eigens entwickelte Website dient dem Projekt gleichzeitig als digitaler Ausstellungsraum und als Katalog. Dort sind drei für die Ausstellung in Auftrag gegebene „Web-first“-Arbeiten aufrufbar, interaktive Medien, ein speziell programmierter KI-Chatbot und Projekt-Dokumentationen. Siehe poeticsofencryption.kw-berlin.de

 

Teilnehmende Künstler*innen sind: Nora Al-Badri, Morehshin Allahyari*, American Artist*, Emmanuel Van der Auwera, Gillian Brett, Émilie Brout & Maxime Marion, Juliana Cerqueira Leite, Julian Charrière, Joshua Citarella, Clusterduck, Juan Covelli, Kate Crawford, Sterling Crispin, Simon Denny, enorê, Roger Hiorns, Tilman Hornig, Rindon Johnson, Vladan Joler, Daniel Keller, Andrea Khôra, Jonna Kina, Oliver Laric, Eva & Franco Mattes, Jürgen Mayer H., Most Dismal Swamp, NEW MODELS, Carsten Nicolai, Simone C Niquille, Trevor Paglen, Matthias Planitzer, Jon Rafman, Rachel Rossin, Sebastian Schmieg, Charles Stankievech, Troika, UBERMORGEN, Nico Vascellari, Zheng Mahler und weitere.

 

<p>Carsten Nicolai, <em>Anti</em>, 2004, Foto: Uwe Walter, Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin.</p>

Carsten Nicolai, Anti, 2004, Foto: Uwe Walter, Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin.

 

Black Site

 

Die hier versammelten Kunstwerke setzen sich mit dem Zustand des locked in auseinander, dem Gefühl, gänzlich von der Technologie vereinnahmt, eingeschlossen oder entführt worden zu sein – versenkt in ein technologisches Grab. Sie erzählen von der Anstrengung und Arbeit, die ein Entkommen aus dieser Situation erfordert. Dabei verhandeln sie Strategien des Suchens und des Wiederherstellens, des Entschlüsselns und Entsperrens.

 

Black Site zeichnet die Konturen einer neuen Unterwelt nach, die Künstler*innen im Inneren eines mechanischen Planeten entdecken, umgeben von einer Flut an Satelliten und Sensoren. Einige der präsentierten Arbeiten erkunden die Infrastruktur dieser Unterwelt und graben sich durch Trollhöhlen, Cockpits, Game-Spaces oder Tagebau-Minen. Andere versuchen dieses Labyrinth zu kartieren – entkommen lässt es sich schließlich nur mit einem Plan.

 

Die Arbeit Holding Death Close (2021) von enorê thematisiert in einer Ästhetik früher First-Person-Abenteuerspiele Orientierungslosigkeit und die Suche nach einem Ausweg. Juliana Cerqueira Leite beschäftigt sich in SHEE (2018, 2024) mit dem räumlichen Kontinuum vom menschlichen Körper bis zum Weltall sowie der seltsamen Spannung zwischen dem Finger (engl. auch „digit“) und dem Digitalen. Ihre Skulptur besteht aus einer Reihe von Körperabgüssen in Gips, die im Rahmen eines von der Europäischen Weltraumorganisation in Auftrag gegebenen 1:1-Modells eines Wohn-Systems hergestellt wurden. Kate Crawford und Vladan Joler stellen für Calculating Empires (2023) in einem 24 Meter langen Diagramm die Verstrickungen von Macht und Technologie seit der Mitte des vergangenen Jahrtausends dar.

 

<p>enorê, <em>holding death close, </em>2021. Video still. Courtesy der*die Künstler*in.</p>

enorê, holding death close, 2021. Video still. Courtesy der*die Künstler*in.

 

Black Hole (I)

 

Was bedeutet Leben im Schatten der Datenspuren? Was bedeutet Tod, wenn der digitale Körper weiterlebt? Wie können wir Verwandtschaften mit den vernetzten Objekten eingehen?

 

Wie schwarze Löcher verzerren kompakte digitale Archive und algorithmische Prozesse die kulturelle Raumzeit. Während sich das Internet und leistungsstarke KI-Modelle das uns bekannte Universum einverleiben und jede Art der Differenz in die Singularität des Codes auflösen, zerfallen Sinn und Bedeutung. Heute wimmelt es von Chimären und losen Definitionen. Dieses Ausstellungskapitel widmet sich sonderbaren Figuren, mittels welcher Künstler*innen den Ereignishorizont der „totalen Datafizierung“ erforschen.

 

Eva & Franco Mattes‘ Panorama Cat (2022) ist eine ausgestopfte rote Tigerkatze, die auf einer viral gegangenen „Panorama Fail“ Fotografie basiert. Sie steht ikonisch für die digitale Verzerrung von Natur und Kultur und die Annäherung von Code und Unsinn. In Juan Covellis Speculative Treasure (2020–2022) schließt ein GAN (Generative Adversarial Network) wichtige Lücken im archäologischen Erbe Kolumbiens, indem es geplünderte Skulpturen durch neue Artefakte ersetzt, die auf der Grundlage von Trainingsdaten aus der nationalen Sammlung entstehen. Emmanuel Van der Auweras VideoSculpture XXV (Archons) (2022) präsentiert beunruhigende Reflexionen über digitale Unsterblichkeit, Post-Truth und Deepfakes. Das animierte Musikvideo IDLE (acts α and ß) (2023) von Émilie Brout & Maxime Marion führt uns das unheimliche Selbstbewusstsein einer im Entstehen befindlichen künstlichen allgemeinen Intelligenz (Artificial General Intelligence (AGI)) vor.

 

<p>Émilie Brout & Maxime Marion, <em>IDLE (acts α and β)</em>, 2023, 4K Video, 25′, mit Unterstützung von CNAP und Fonds Culturel National, courtesy die Künstlerinnen und 22,48 m².</p>

Émilie Brout & Maxime Marion, IDLE (acts α and β), 2023, 4K Video, 25′, mit Unterstützung von CNAP und Fonds Culturel National, courtesy die Künstlerinnen und 22,48 m².

 

Black Hole (II)

 

Wie schwarze Löcher verzerren kompakte digitale Archive und algorithmische Prozesse die kulturelle Raumzeit. Dieses Ausstellungskapitel widmet sich den Bildern, mittels welcher Künstler*innen den Ereignishorizont der „totalen Datafizierung“ erforschen. Diese Chimären suchen unsere sozialen, ökonomischen und politischen Landschaften heim – in Form von ekstatischen Verschwörungen und Post-Truths, die einen Punkt markieren, an dem es kein Zurück mehr gibt.

 

Durch Hyperlinks verknüpfter Raum ist größtenteils flach und birgt scheinbar unendliche Pfade zwischen Orten und Werten. Darin scheinen Anhöhen zu fehlen – Standpunkte, von denen aus sich der Raum als Ganzes betrachten ließe. Weitreichende Verschwörungen des Web 2.0 wie QAnon, nutzen die Unübersichtlichkeit solcher Pfade und schaffen immer mächtigere Verbindungen innerhalb ihrer (Un-)Sinn produzierenden Netze, während sie alle möglichen Widersprüche in sich vereinen.

 

Clusterducks The Detective Wall (2023) wagt sich an den Rand dieses Abgrunds. Ihr Projekt versucht sich an einer Aufzeichnung der aktuellen Meme-Landschaft, indem es den berühmten Ansatz der Bildanalyse des Kunsthistorikers Aby Warburg mit dem Wahnsinn des crazy wall-Motivs aus Kriminal- und Detektivfilmen verbindet. Joshua Citarellas e-deologies (2020–2023) veranschaulicht, wie digitale Medien in das politische Leben eingreifen. Die Arbeit zeigt eine Reihe von Flaggen, deren Wappen für eigentümliche Hybride stehen: in politischen Foren gefundene, wilde Kombinationen – von „anarchokapitalistischem voluntaristischem Pazifismus“ bis hin zu „links-egoistischem Transhumanismus“. Gleich daneben beschäftigt sich Andrea Khôras neu produzierte Arbeit RAPTURE (2024) mit der unwahrscheinlichen Konvergenz von Halluzinationen und Kapitalismus vor dem Hintergrund der steigenden Begeisterung des Silicon Valley für psychedelische Substanzen. Dafür visualisiert sie ihre eigenen Ketamin-Trips mittels Machine Learning.

 

<p>Trevor Paglen, <em>Because Physcial Wounds Heal…</em>, 2023. Courtesy des Künstlers, Altman Siegel, San Francisco und Pace Gallery © der Künstler</p>

Trevor Paglen, Because Physcial Wounds Heal…, 2023. Courtesy des Künstlers, Altman Siegel, San Francisco und Pace Gallery © der Künstler

 

Black Box

 

In Black Box untersuchen Künstler*innen die intellektuelle Unzugänglichkeit allgegenwärtiger Tech-Produkte und Kontrollsysteme und das damit zusammenhängende Gefühl, ausgeschlossen zu sein (being locked out).

 

Eine Blackbox ist ein Gerät, das über Eingabe und Ausgabe definiert ist und lediglich Muster erkennen lässt, ohne seine eigentliche Funktionsweise preiszugeben. Was im Inneren der Blackbox abläuft, ist unklar und opak. Die Begegnung mit diesen okkulten Kräften markiert einen Ort der Sehnsucht und der Enttäuschung in der gegenwärtigen Tech-Kultur. Die hier versammelten Kunstwerke führen das Spannungsverhältnis zwischen dem sichtbaren Interface und dem unsichtbaren Backend vor. Einige zeigen zudem auf, wie selbst eine Rhetorik der Transparenz die Wahrheit verdecken kann.

 

Die Arbeit P2P (2022) von Eva & Franco Mattes ist ein mit dem offenen Internet verbundener Server. Über eine Torrent-Datei wird ein digitales Kunstwerk über das Peer-to-Peer Netzwerk verteilt. Der Server hat keinen Ausgang, daher beschränkt sich das Werk auf blinkende Lichter und das Geräusch der Lüfter. Was geschieht hier sonst noch hinter den Kulissen? Mit Faces of ImageNet (2022) entlarvt Trevor Paglen die Vorurteile, die der wachsenden Technologie von Gesichtserkennungssystemen innewohnen. Während sie Besucher*innen kategorisiert, demonstriert die Arbeit konkrete Ausdrücke von algorithmischem Rassismus, Frauenfeindlichkeit und mehr, die in den Trainingsdaten der KI verborgen liegen. Darüber hinaus inszeniert Tilman Hornig in seiner Serie GlassBook (2013–2023) die ästhetischen Täuschungen rund um die Computertechnik. Inwieweit sind Smartphones, Laptops und andere Systeme wirklich transparente Vermittler*innen von Realität?

 

Impressum

 

Kurator: Nadim Samman


Assistenzkuratorin: Linda Franken
Kuratorische Assistenz: Lara Scherrieble


Produktionsleitung: Mathias Wölfing, Claire Spilker (in Elternzeit)


Technische Leitung: Wilken Schade


Leitung Installation, Medientechnik: Markus Krieger


Aufbauteam: KW Aufbauteam


Registrarinnen: Bryn Veditz, Luisa Haustein


Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano 


Programmkoordination und Outreach: Nikolas Brummer
Leitung Kommunikation und Marketing: Anna Falck-Ytter


Leitung Kommunikation und Presse: Marie Kube


Assistenz Presse und Kommunikation: Luisa Schmoock


Text und Redaktion: Nadim Samman, Linda Franken, Lara Scherrieble


Übersetzung und Lektorat: Sabine Weier, Simon Wolff 


Wissenschaftliches Volontariat: Aykon Süslü


Praktikant*innen: Robin Schmitt, Michael Broschmann, Salome Klotz, Mattis Thomsen, Josefina Dux

 

 

_____

*Die Künstler*innen, deren Namen durchgestrichen sind, haben entschieden, staatlich finanzierte, deutsche Einrichtungen zu bestreiken und somit ihre Teilnahme an der Ausstellung zurückzuziehen.

 

 

<p>Das <em>KW Digital Program</em> 2023–2024 wird von der Volkswagen Group unterstützt.</p>

 

Das KW Digital Program 2023–2024 wird von der Volkswagen Group unterstützt.

 

Die Ausstellung Poetics of Encryption wird unterstützt von Apalazzo, Blessed Foundation, max goelitz, Harlan Levey Projects und Sprüth Magers. Die Ausstellung ist von den KW Institute for Contemporary Art, Berlin, initiiert und wird in veränderter Form in der Kunsthal Charlottenborg in Kopenhagen Ende 2024 präsentiert.

 

<p>Medienpartner der Ausstellung</p>

 

Medienpartner der Ausstellung