Santiago Sierra

 

 

30. September – 28. November 00

 

 

Am Samstag den 30. September 2000, 17-21 Uhr, eröffnen die Kunst-Werke Berlin e.V. eine sechswöchige Performance des 34-jährigen, in Mexiko-Stadt lebenden Künstlers, Santiago Sierra. Zeitgleich präsentieren die KW Institute for Contemporary Art die erste umfangreiche Einzelausstellung des Künstlers in Europa.

Santiago Sierra konzentriert sich darauf Aktionen und Performances zu initiieren und zu dokumentieren. Formal in der Tradition der Minimal, Land Art, Arte Povera und den Performancearbeiten der 1960er und 1970er verortet, zeigen alle Events von Sierra eine hohe kritische Dimension auf und befassen sich mit den wichtigen sozialen und physischen Problemen der heutigen Bevölkerung. Mit Blick auf die politischen und sozialen Entwicklungen und die Ungleichheiten zwischen der sogenannten ersten, zweiten und dritten Welt, behandelt Sierra vor allem Themen wie körperliche Arbeit, Gesundheit, Nationalität und soziale Herkunft. Er untersucht verschiedene politische und ökonomische Systeme und die davon ausgehenden Konsequenzen auf einzelne Individuen.

Sierras Performance in den KW steht in enger Verbindung mit einer Aktion, die er 1999 in einer Galerie in Guatemala durchgeführt hat. Acht illegale Arbeiter wurden dafür angestellt, sich über die gesamte Dauer der Ausstellung in Pappkisten zu setzen. Auf formaler Ebene entstand durch die simple, minimalistische White-Cube-Architektur des Galerieraumes ein starker ästhetischer Kontrast zu den grob gearbeiteten Boxen. Inhaltlich wiesen die Boxen auf die Slums und die zerbrechlichen Behausungen der Stadt und somit auf die ambivalente Situation illegaler ArbeiterInnen in Guatemala hin. Der fehlende legale Status und das Nicht-Auftauchen in offiziellen Statistiken machen diese Menschen zu „unsichtbaren“ Mitgliedern der Gesellschaft.

Aufgrund der internationalen Diskussion über den Status von Ausländern und Asylsuchenden in Deutschland, zeigt Santiago Sierra in der Ausstellungshalle der KW eine neue Version einer Performance, die ursprünglich in Guatemala entstand. Während des Projektes Six People who cannot be remunerated for the Staying in the Interior of Cardboard Boxes werden freiwillige Asylsuchende für die gesamte Dauer der Ausstellung jeweils vier Stunden pro Tag in den Kisten verweilen. Die engen Boxen erinnern an rudimentäre Transportboxen, die keinerlei Bewegung, geschweige denn die Möglichkeit zu arbeiten zulassen.. Bis auf die Luftzufuhr sind sie komplett verschlossen, so dass der Insasse vor den Blicken der BesucherInnen versteckt ist. Die unsichtbare, physische Präsenz ist ebenso wie die bewegungslose Ruhe eine alarmierende Metapher für die Situation von Asylsuchenden in Deutschland. Auf der einen Seite unsichtbar, da sie in speziellen Unterkünften untergebracht sind, wo sie aufgrund von Reise- und Arbeitsverboten zur Untätigkeit gezwungen sind, auf der anderen Seite aus eigenem absichtlich versteckt, aus Angst vor Angriffen aus der rechten Szene.

Der Titel Six People who cannot be remunerated for the Staying in the Interior of Cardboard Boxes spricht die spezifische Situation der Asylsuchenden in Deutschland an. Als Sierra sein Projekt vorstellte, realisierte er, dass er zwar Freiwillige für sein Projekt finden , diese jedoch eine Bezahlung ablehnen würden, um keinen Anlass dafür zu geben, in ihre Heimatstaaten zurück geschickt zu werden. Da die Bezahlung seiner ProtagonistInnen normalerweise essentiell für Sierras Arbeit ist, beschloss der Künstler im Titel direkt auf diese spezifischen Umstände in Deutschland hinzuweisen.

Aufgrund der ephemeren Natur seiner Aktionen, dokumentiert Sierra seine Arbeiten mit Videos und Photographien. Santiago Sierra wurde 1966 in Madrid geboren. Von 1989 bis 1991 studierte er als internationaler Gaststudent an der Hochschule der Bildenden Künste in Hamburg. Santiago Sierra lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt.