Kuratorischer Text
SKIN IN THE GAME
Ruth Buchanan, Otobong Nkanga, Collier Schorr, Rosemarie Trockel, Joëlle Tuerlinckx, Andrea Zittel
14. September 23 – 7. Januar 24
Kuratorin: Clémentine Deliss
Kuratorische Assistenz: Nikolas Brummer
Otobong Nkanga, Footpitch, 1999. Photography, 90 x 120 cm. Courtesy die Künstlerin und Lisson Galerie.
Zwischen Himmel und Hades
Kuratorischer Essay, Clémentine Deliss
„Es geht um den Körper und das Trauma. Um gegenseitige Identifikation und Projektion. Im Fall von SKIN IN THE GAME verhalten sich die Charaktere oft wie Engel im Tal des Todes.“
—Collier Schorr
SKIN IN THE GAME, auf Deutsch übersetzt „Die Haut im Spiel“, präsentiert signifikante Prototypen aus den persönlichen Archiven sechs international bekannter Künstler*innen von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart. Darunter finden sich Experimente, die noch nie gezeigt wurden – von Malerei und Bannern bis zu Videoarbeiten, Fotografien, Collagen, Kostümen, Büchern, Zeichnungen und Konzeptnotizen. Die sechs Künstler*innen verbindet kein gemeinsames Thema, kein geteilter Stil oder eine ähnliche politische Haltung. Was sie gemeinsam haben, ist die Erfahrung von „skin in the game“, jenen anfänglichen Moment der beruflichen und existenziellen Emanzipation, als diese Künstler*innen ihre Haut ins Spiel geworfen und sie sich ganz der Kunst verschrieben haben – sich also in den Hades einer unsicheren Existenz, ebenso aber in den Himmel des künstlerischen Experimentierens begeben haben.
Joëlle Tuerlinckx warf im Alter von fünf Jahren Schlammklumpen an ein Haus und sah dabei zu, wie der Matsch die saubere weiße Fassade herunterlief, in der Sonne trocknete und Spuren hinterließ. Sie experimentierte weiter mit Klecksen und Flecken, und während der Vorbereitungen zu ihrer ersten öffentlichen Ausstellung im Palais des Beaux-Arts in Brüssel malte sie schließlich einen Fleck an die Wand. Dieser Fleck, den sie sich entschied, nicht zu übermalen, entwickelte sich in der Folge zu einem Erkennungszeichen ihrer Arbeit, zu einer konstanten Provokation und Dekonstruktion des Kanons. Im Falle Otobong Nkangas lassen sich sämtliche Schlüsselemente ihres Werks zu Fattening Room zurückverfolgen, einer Performance, Installation und Digitalfotografie aus dem Jahr 1999, mit der Nkanga Traditionen der skulpturalen Darstellung weiblicher Körper aus ihrer südnigerianischen Heimat neu formulierte und diese in Bezug zur volkstümlichen Architektur setzt. Die frühen Fleischarbeiten aus Wollstrick von Ruth Buchanan aus Aotearoa Neuseeland beziehen sich bewusst auf Rosemarie Trockel, deren eigener Beitrag zur Ausstellung wiederum aus ihren ersten Strickbildern (1984–85), frühen Zeichnungen und Buch-Covern (1978–88) sowie aus Prototyp für ein Hühnerhaus (1993) besteht. Dokumentarisches Material aus Andrea Zittels persönlichem Archiv illustriert dagegen Zittels erste Zuchtexperimente im Sinne eines Ausdrucks modernistischen Designs – Experimente, die sie schließlich dazu führen sollten, autarke Wohnzellen für Menschen zu entwerfen. Collier Schorr schließlich stellt fotografische Collagen aus ihrem ersten Buch Jens F. (1991/2005) aktuellen Assemblagen aus Akerman Ballet (2023) gegenüber, einer neuen Arbeit, in der sie Szenen aus Je, tu, il, elle, tanzt, dem Film, mit dem Chantal Akermans 1974 bekannt wurde. All diesen Arbeiten sind Prototypen – auf halber Strecke zwischen der Präzision einer Blaupause und der Symbolik von Poesie verortet.
Collier Schorr, Akerman Ballet, 2023. Courtesy die Künstlerin und 303 Gallery.
Ein roter Faden, der sich durch die Ausstellung zieht, ist die Fähigkeit dieser frühen Prototypen, für die Künstler*innen fruchtbar zu bleiben, sich immer wieder weiter zu entwickeln und in endlose Versionen eines Originals zu verwandeln. Schorr fährt ihre alten Fotografien mit einem Stift nach, ein Akt der Transkription, in dem sie die emotionale und visuelle Beziehung zum originalen Modell aktualisiert. Tuerlinckx präsentiert Generationen von Bildern, zum Beispiel Paleolithic Hand, ein ikonisches archäologisches Diagramm, das sie auf dem Fotokopierer in die Länge zieht und deformiert. Anhand von Zittels Briefen, Fotografien und Zeichnungen lässt sich Schritt für Schritt der Designprozess nachvollziehen, der sie von Zuchtkäfigen für Bantam-Hühner zu Möbeln für menschliche Behausungen gebracht hat. Ruth Buchanans Textarbeiten reichen schließlich von Essays, die für niemanden geschrieben wurden, bis zu angefangenen Konzepten für Performances, Audio- und Videoarbeiten. Stets in hohem Maße generativ, verwischen diese Prototypen die Grenze zwischen Original und Dokumentation, Kunstwerk und Archiv.
Die Aussstellung erzählt ebenso von der Vorhandenheit – und dem Fehlen – emblematischer Positionen für Künstler*innen zwischen den 1970er- und den 1990er-Jahren. So wird etwa in Work-Titles (1978–88) Trockels ambivalente Haltung gegenüber dem Kunstbetrieb der Zeit deutlich: Theoriephobie, 1983, Collectors Voice, 1985, Master-Pieces and copies (My way), 1987 und Vanishing Ideals, 1988. Buchanan dagegen bringt ihre Bewunderung und Nähe zu Künstler*innen aus Aotearoa Neuseeland wie Jacqueline Fraser und et. al. zum Ausdruck. Nkangas Weg wiederum beginnt mit einem Kunststudium in Ile-Ife in Nigeria und führt sie weiter an die École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris, wo sie in die Ateliers von Jean-Jacques Lebel, Giuseppe Penone und Jean-Luc Vilmouth studiert. Zu Ngangas eigenen Leitfiguren gehören Rebecca Horn, Sokari Douglas Camp und die verstorbene feministische Autorin bell hooks. Tuerlinckx schließlich verweist mit einer neuen Bodenarbeit, die für SKIN IN THE GAME entstanden ist, auf Carl Andre. Vor Ort produzieren Nkanga und Tuerlinckx in den KW für diese Ausstellung zudem ihr erstes gemeinsames Werk.
Joëlle Tuerlinckx, Trou de Crayon, 1976. Courtesy Nagel Draxler und Galerie Nächst St. Stefan Rosemarie Schwarzwälder.
SKIN IN THE GAME verschmilzt die Umgebung der Ausstellung mit dem Umfeld des Ateliers und bietet damit einen möglichen Modus Operandi für zukünftige Ausstellungen und weitere Prototypen an. Die Raumchoreografie entstand aus einer Kollaboration zwischen der Kuratorin und Joëlle Tuerlinckx. In Tuerlinckx’ Praxis steht immer wieder die Frage im Fokus, wie sich das private Setting des Studios, das die Freiheit bietet, ohne Ziel gestalten zu können, in den hermetischen Rahmen der Galerie verpflanzen lässt. Als Reaktion darauf konfiguriert sie räumliche Situationen, schneidet Ausschnitte aus Wänden heraus, arbeitet mit natürlichem und künstlichem Licht und baut Arrangements nach ihrem System der magnetischen Studiowand (Magnetic Studio Wall). Kuratorisch wird das Konzept der Ausstellung SKIN IN THE GAME über eine Methode transgressives Nebeneinander (transgressive adjacency) vermittelt, das heißt, Kunstwerke und Artefakte unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen Disziplinen werden eng zusammen präsentiert, um sowohl Momente der Komplizenschaft wie der „nachbarschaftlichen Abneigung“ zu schaffen. Wie ein Eindringling oder eine Besetzerin bemächtigt sich die Ausstellung SKIN IN THE GAME der blaßrosa- und schwarzfarbigen Wände der vorangegangenen Schau in den KW. Sie nimmt sich, was da ist – und verweist damit auf Fragen der Nachhaltigkeit und ökonomischen Stringenz im Ausstellungsmachen heute.
Für die Besucher*innen stehen sogenannte „Metabolic Chairs“ bereit, auf denen sie sich ausruhen und Interviews mit den Künstler*innen lesen können. Metabolic Museum–University (www.mm-u.online), eine Forschungs- und Bildungsplattform, die von den KW unterstützt wird und im Oktober 2023 startet, organisiert unter dem Titel NERVES, BREATH, MUSCLES, BLOOD (Nerven, Atem, Muskeln, Blut) ein Online-Begleitprogramm. Die Publikation SKIN IN THE GAME. Conversations on Risk and Contention (Hatje Cantz/KW) erscheint im November 2023 und folgt auf The Metabolic Museum (2020, Hatje Cantz/KW).
Bei den Arbeiten in der Ausstellung handelt es sich um großzügige Leihgaben der Künstler*innen sowie der folgenden Galerien: Coastal Signs, Tāmaki Makaurau Auckland (Ruth Buchanan); Lisson Gallery, London (Otobong Nkanga); 303 Gallery, New York, (Collier Schorr); Sprüth Magers, Berlin, Köln (Rosemarie Trockel, Andrea Zittel); Nagel Draxler, Berlin, Köln und München, sowie Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien (Joëlle Tuerlinckx).
Impressum
Kuratorin: Clémentine Deliss
Kuratorische Assistenz: Nikolas Brummer
Ausstellungschoreografie: Joëlle Tuerlinckx und Clémentine Deliss
Metabolische Stühle: Charakter Design, Diane Hillebrand mit Francesca-Romana Audretsch, Janina Capelle, Lizzy Ellbrück, Teresa Häußler, Cécile Kobel, Christina Scheib, MM-U 2018-19
Program Metabolic Museum-University: Christina Scheib mit Ollie George, Jakob Karpus, Felipe Meres, Joana Owona, Toby Üpson, Edi Winarni, Winnie Zhu, MM-U 2023
Webseiten-Design und Programmierung/Website Design and
Programming: Rana Karan & Cécile Kobel / Happys
Website Design and Programming: Rana Karan & Cécile Kobel/ Happyserver


Im Rahmen der Berlin Art Week