Kuratorischer Text
Preis für künstlerische Forschung der Schering Stiftung 2024:
Sung Tieu
1992, 2025
15. Februar – 4. Mai 25

 

Kurator: Léon Kruijswijk

Assistenzkuratorin: Linda Franken

 

Die recherchebasierte künstlerische Praxis von Sung Tieu (* 1987, VN) thematisiert die unauflöslichen Spannungen zwischen individuellen Lebensrealitäten und übergeordneten Mechanismen systemischer Regulierung. Dabei reflektiert sie insbesondere die deutsch-deutsche Geschichte kritisch. Ihr Werk, das sich zwischen Installation, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Text, Video und Klang bewegt, entlarvt die verborgenen strukturellen Logiken, die soziale Zugehörigkeit und politische Existenz definieren. Dabei dekonstruiert Tieu die Kategorien des Legalen und Illegalen, der Inklusion und der Exklusion. Die Künstlerin hat einen unverkennbaren Stil entwickelt, der auf der visuellen Sprache der Konzeptkunst aufbaut. Sie operiert an der Schnittstelle von Form und Funktion, indem sie Design, Architektur und Verwaltungsmechanismen öffentlicher Institutionen als semiotische Systeme analysiert. Dabei legt sie deren oft unbemerkt bleibende Dynamiken der Kontrolle, Überwachung und Disziplinierung offen.

 

In ihrer Ausstellung 1992, 2025 vertieft Tieu ihre fortlaufende Auseinandersetzung mit dem Anwerbeabkommen von 1980 zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam, welches die Migration von etwa 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in den 1980er Jahren in die DDR zur Folge hatte. Während ihre bisherigen Ausstellungen vor allem die Lebens- und Arbeitsbedingungen dieser Arbeiter*innen bis zum Mauerfall 1989 beleuchteten, richtet sie in dieser Ausstellung den Fokus auf die weitreichenden Auswirkungen des Zusammenbruchs der DDR. Anhand einer Reihe neuer Auftragsarbeiten und einer begleitenden Publikation analysiert Tieu, wie die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche sowie die rassistischen Strukturen und Diskriminierungen jener Zeit die Identitäten, Rollenbilder und sozialen Netzwerke der vietnamesischen Gemeinschaft beeinflussten und bis heute prägen.

 

Die sich über zwei Stockwerke erstreckende Ausstellung spiegelt eine klare Trennung der im Titel genannten Jahre wider, die Tieu als zentrale Bezugspunkte in den Fokus rückt. Der räumliche Durchbruch zwischen den Etagen schafft jedoch eine Verbindung zwischen den beiden Ebenen und damit auch zwischen den beiden Jahren. Der Ausstellungsteil im ersten Stockwerk widmet sich dem Jahr 1992 – dem Jahr, in dem Tieu nach Deutschland kam.

 

<p>Sung Tieu, 1992, 2025. Grafik von Dan Solbach. © die Künstlerin.</p>

Sung Tieu, 1992, 2025. Grafik von Dan Solbach. © die Künstlerin.

 

Mit der deutschen Wiedervereinigung wurden viele Vertragsarbeiter*innen der DDR und deren Familien einem Zustand rechtlicher und sozialer Unsicherheit ausgesetzt. Die plötzliche Auflösung ihrer Arbeitsverträge im Zuge der Schließungen vieler Volkseigener Betriebe entzog ihnen nicht nur ihr Einkommen, sondern auch die Grundlage ihres Aufenthalts. An ein System gebunden, das sie zuvor als wirtschaftliche Ressource instrumentalisiert hatte, fanden sie sich in einem Netz aus bürokratischen Hindernissen und existenzieller Prekarität wieder. Viele ehemalige Vertragsarbeiter*innen sahen sich angesichts dessen gezwungen, informelle Überlebensstrategien zu entwickeln, die weniger Ausdruck von Wahlfreiheit als vielmehr eine Reaktion auf die Notwendigkeit waren, und in einer rechtlichen Grauzone zu agierten. Zu diesen Überlebensstrategien gehörten der Handel mit unverzollten Zigaretten, Textilien oder Lebensmitteln wie Obst, Gemüse und Blumen – oft ohne Standgenehmigung. Diese Aktivitäten bedeuteten nicht nur eine prekäre Existenzgrundlage, sondern auch eine sichtbare Präsenz der kriminalisierten Händler*innen im öffentlichen Raum. Tieus Mutter war eine von ihnen.

 

Tieus Siebdrucke von archivalischen Fotografien auf Metallplatten greifen diese informellen Handlungsgesten auf und betonen durch deren motivische Wiederholung ihre Alltäglichkeit auf der einen und das Agieren in einer juristischen Grauzone auf der anderen Seite. Mit diesen Werken beleuchtet sie die Spuren und Nachwirkungen solcher Erfahrungen, die vom fortwährenden Ringen um Leben und Überleben geprägt sind. Indem Tieu die Ambivalenzen der „Wiedervereinigung“ untersucht, verweist sie auf die Diskrepanz zwischen den verheißungsvollen Versprechen von Einheit und Gleichheit und der Realität, in der diese für viele lange Zeit ungreifbar blieben.

 

1992 wurde von einer Welle rechtsextremer Gewalt geprägt, die sich über ganz Deutschland erstreckte. Durch das Handeln sowie das Versagen staatlicher Institutionen, einschließlich der Polizei, eskalierten diese oft weiter. Einige der Ausschreitungen wie die in Rostock-Lichtenhagen, bei der die Polizei kaum eingriff, gelten bis heute als eines der schwersten rassistisch und fremdenfeindlich motivierten Pogrome in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Zentral im Raum positionierte Schneiderpuppen tragen Anzüge aus einem Stoff, den Tieu mit Zeitungsartikeln aus ihrem Archiv bedruckt hat. Diese Artikel dokumentieren rassistisch motivierte Übergriffe in den 1990er Jahren und zeugen von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der vietnamesischen Gemeinschaft jener Zeit. Die im Raum positionierten Skulpturen tragen buchstäblich die Last dieser Geschichte auf ihren Schultern und machen die Gewalt rechtsextremer Übergriffe auf eindringliche Weise sichtbar.

 

Die Idee des Zwischenzustands durchzieht die Ausstellung auf vielschichtige Weise. Ein Ensemble paradigmatischer DDR-Möbel hängt im Durchbruch in der Schwebe und kreiert so einen mehrdeutigen Zwischenraum. Bei der Produktion von DDR-Möbeln waren auch Vertragsarbeiter*innen involviert. Die fast unheimlich wirkende, wie in einem Traum schwebende Möbellandschaft, die Tieu im Zuge der Ausstellungsvorbereitungen über Kleinanzeigen zusammengetragen hat, verweist auf die fortwährende Durchdringung historischer Prozesse bis in die Gegenwart. Zugleich steht sie symbolisch für den unerfüllten Wunsch nach einem sicheren Zuhause – einem Ort der Stabilität, der verwehrt blieb.

 

In Cultural Appropriation (in the GDR) thematisiert Tieu die internationale Ausrichtung der DDR-Wirtschaft: Hier sind „orientalisch“ anmutende Teppiche ausgelegt, die in der DDR produziert wurden. Sie fanden starke Nachfrage auf dem internationalen Markt – sowohl im Westen als auch im Nahen Osten. Die Betriebe profitierten von den vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten der DDR, wo die Teppiche maschinell und kostengünstig produziert wurden, anstatt – wie ihre Vorbilder – aufwendig per Hand geknüpft zu werden. So wurden sie zu einem lukrativen Exportgut, das der DDR wirtschaftlich zugutekam, gleichzeitig aber von kultureller Aneignung fremder ästhetischer Traditionen für nationale Gewinne zeugte. Tieus Teppichinstallation wird so zum Symbol für die Widersprüche eines Systems, das andere Kulturen wirtschaftlich vereinnahmte, während es zugleich die soziale Inklusion der Menschen der sogenannten Brüderländer verweigerte, die es für sich arbeiten ließ.

 

Auf der zweiten Etage der Ausstellung, die sich dem Jahr 2025 widmet, werden historische und gegenwärtige Narrative in vielschichtiger Weise miteinander verwoben. Fünf aus Aluminium gegossene Vierkantstäbe verweisen auf die Länge der Berliner Elle – eine historische Maßeinheit in Preußen. Sie sind an den Säulen im Raum angebracht und fungieren als symbolische Bezugspunkte, die buchstäblich den „Ellenbogen ausstrecken“ und gesellschaftliche Distanz markieren. Diese Intervention verankert die Ausstellung physisch und metaphorisch im architektonischen Raum der KW. Das Gebäude, im ehemaligen Ostteil Berlins gelegen und in der DDR als Margarinefabrik genutzt, ist heute Teil eines zentralen, gentrifizierten Stadtteils. Es wird zum Schauplatz für die Reflexion vergangener Strukturen und Praktiken, die in die Gegenwart fortwirken. Die „ausgestreckten Ellen“, die die Interaktionen im Raum lenken, sind zugleich ein Hinweis auf die physische und symbolische Macht solcher Maßeinheiten, die Ordnungen definieren und Hierarchien festschreiben. Dem gegenüber platzierte Wandhocker kreieren das Gefühl eines Warteraums, eines Ortes der Unsicherheit und des Übergangs, in dem Transformation angedeutet, jedoch nicht abgeschlossen ist.

 

Die ereignisreichen Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung finden ebenfalls Eingang in diese Etage. Zentral ist ein Brief im Rahmen des Gedenkens an Nguyễn Văn Tú, einem jungen Mann und ehemaligen Vertragsarbeiter, der 1992 in Berlin-Marzahn auf tragische Weise ums Leben kam – eines der ersten als rechtsextrem motiviert klassifizierten Tötungsdelikte nach der „Wende”. Sein gewaltsamer Tod löste große Betroffenheit und Unruhe innerhalb der vietnamesischen Gemeinschaft aus und fand auch in den deutschen Medien breite Resonanz. 2023, 31 Jahre später, wurde Sung Tieu zusammen mit zwei deutschen Künstler*innen eingeladen, Entwürfe für ein Gedenkzeichen zu entwickeln. Als einzige beteiligte Künstlerin mit vietnamesischem und migrantischem Hintergrund kritisierte sie das Verfahren, welches, so Tieu, die vietnamesische Gemeinschaft unzureichend einbezog. Ihr Vorschlag, die Liste eingeladener Künstler*innen zu erweitern, wurde abgelehnt. Nach einer schriftlichen Kritik an der Jury und Vorschlägen für deren Erweiterung, die Tieu gemeinsam mit sechs weiteren Künstler*innen, Aktivist*innen, Sozialarbeiter*innen, Forscher*innen und Kurator*innen darlegte, wurde sie laut Jury wegen Verstößen gegen die Verfahrensregeln von der Teilnahme an dem Wettbewerb ausgeschlossen.* Das Gedenkzeichen wurde schlussendlich von einer deutschen Künstlerin realisiert und Ende 2023 eingeweiht. Während der Einweihung organisierten Tieu und ihre Kollaborateur*innen einen stillen Protest. In der Ausstellung geben gravierte Wandarbeiten aus Edelstahl diese Ereignisse wieder und öffnen den Raum für eine kritische Auseinandersetzung.

 

Diese Erfahrungen veranlassten Tieu dazu, strukturelle Mechanismen der Ausgrenzung und Intransparenz institutioneller Prozesse kritisch zu hinterfragen. Im Rahmen dieser Reflexionen lenkte sie ihren Fokus auf die Zusammensetzung des Trägervereins der KW Institute for Contemporary Art und der Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, den KUNST-WERKE BERLIN e. V. Sie schlug dem Vorstand Maßnahmen zur Erweiterung des Stimmenspektrums, der Perspektiven und Inklusivität innerhalb des Vereins vor.

 

Vor diesem Hintergrund entwickelte Tieu ein konzeptuelles Kunstwerk, dessen Verkaufserlös die Finanzierung einer fünfjährigen Mitgliedschaft für ein neues, von ihr vorgeschlagenes Vereinsmitglied sicherstellen soll. Diese Mitgliedschaft geht einher mit der fünfjährigen Direktion von Emma Enderby in den KW. Der Vorstand hat zugesichert, den Vorschlag von Tieu anzunehmen. Das Werk Tieus entkoppelt so den jährlichen Mitgliedsbeitrag von 5.000 Euro von dem Vereinsmitglied und erlaubt damit dessen Mitgliedschaft im Trägerverein unabhängig von sozio-ökonomischen Hintergründen und Barrieren. Die neue Position soll den Diskurshorizont der Mitgliederversammlungen konstruktiv erweitern. Da diese Veränderung der internen Strukturen derzeit noch im Gange ist, spielen die Ausstellung sowie die begleitende Publikation auf die Transformationen all dessen an, was sich im noch ungewissen Verlauf des Jahres 2025 ereignen kann.

 

Text: Léon Kruijswijk, Sung Tieu

 

* Tieus sechs Kollaborateur*innen waren: Bích Ngọc Lưu, Dr. Kimiko Suda, Duc Pham, Mara Hornemann, Nam Nguyen and Quang Nguyễn-Xuân.

 

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Sung Tieu ist Preisträgerin des Preises für Künstlerische Forschung der Schering Stiftung 2024, der seit 2020 gemeinsam mit der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt verliehen wird. Die Auszeichnung umfasst neben einem Preisgeld eine Ausstellung, die die Produktion neuer Arbeiten einschließt, sowie eine Monografie (voraussichtlicher Erscheinungstermin: April 2025).

 

 

 

<p>Sung Tieu, Porträt, 2023, Foto: Nadine Fraczkowski</p>

Sung Tieu, Porträt, 2023, Foto: Nadine Fraczkowski

 

Biografie

Sung Tieu (* 1987 in Hai Duong, Vietnam) ist eine in Berlin lebende Künstlerin, deren multidisziplinäre Praxis Skulptur, Zeichnung, Text, Sound und Video umfasst. Ihre Ausstellungen setzen sich kritisch mit den sich wandelnden Strukturen und Mechanismen von Kontrolle auseinander. Dabei thematisiert sie Fragen von Gleichberechtigung, Zugehörigkeit und individueller Souveränität und beleuchtet die psychologischen Auswirkungen ideologischer Systeme sowie die von ihnen produzierten politischen Dynamiken. Durch die Verknüpfung von Recherche mit autobiografischen Elementen schlägt Tieu eine Brücke zwischen dem Persönlichen und dem Institutionellen und untersucht, wie Machtgefüge durch die Gestaltung von Objekten, Räumen und bürokratischen Prozessen wirken. Ihre Arbeiten hinterfragen, wie zeitgenössische Verwaltungsformen und die Globalisierung das individuelle Handlungsvermögen prägen und betonen dabei häufig die Spannung zwischen Konformität und Widerstand innerhalb dieser Strukturen.

Jüngste Einzelausstellungen fanden im Museum für Gegenwartskunst Siegen, Deutschland (2024), in der Kunsthalle Nürnberg, Deutschland, im Kunst Museum Winterthur, Schweiz, im MIT List Visual Arts Center in Cambridge, MA, USA, bei Amant in New York, NY, USA und im Neuen Berliner Kunstverein, Deutschland (alle 2023) statt. Ihre Arbeiten waren zudem in bedeutenden internationalen Ausstellungen zu sehen, darunter auf der 15. Gwangju Biennale (2024), der 14. Shanghai Biennale (2023) und der 34. Bienal de São Paulo (2021). Im Anschuss an 1992, 2025 in den KW bereitet Tieu 2025 eine große Einzelausstellung in der Kunsthalle Bern vor.

 

Impressum

Kurator: Léon Kruijswijk
Assistenzkuratorin: Linda Franken
Produktionsleitung: Claire Spilker
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbau: KW Aufbauteam
Live Programmer: Nikolas Brummer
Registrarin: Bryn Veditz
Leitung Presse und Kommunikation: Marie Kube
Leitung Presse und Marketing: Anna Falck-Ytter
Online Kommunikation und Online Marketing: Haja Camara
Studentische Assistenz Kommunikation: Isabella de Arruda Ilg
Leitung Vermittlung: Alexia Manzano
Text und Redaktion: Léon Kruijswijk, Sung Tieu
Übersetzung und Lektorat: Georg und Katrin Hiller von Gaertringen, Sabine Wolf, Simon Wolff
Wissenschaftliches Volontariat: Aykon Süslü
Praktikant*innen: Panka Bognar, Kimia Godarzani-Bakhtiari, Pauline Jacob, Joséphine Richard, Guilherme Vilhena Martins, Yicheng Xie

 

Studio Sung Tieu: Gunar Laube, Miriam Umin, Silvio Saraceno, Vanda Skácalová

Sound Production: Alexis Chan

Kollaborator*innen For Nguyễn Văn Tú (2025): Bích Ngọc Lưu, Dr. Kimiko Suda, Duc Pham, Mara Hornemann, Nam Nguyen, Quang Nguyễn-Xuân

Besonderer Dank: Martin Heller, Mitglieder des KUNST-WERKE BERLIN e. V., Markus Buhlmann

 

Der Preis für künstlerische Forschung der Schering Stiftung wird von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert und in Kooperation mit den KW Institute for Contemporary Art vergeben.