VILLEGGIATURA
Rurale Gentrifizierung, zeitgenössische Kunst und bessere Optionen, alt und neu

 

Online-Konferenz am 7.–8. November 20, 10–18.00 Uhr

 

<p>Bild: Evariste Carpentier, Promenade d’une famille dans les environs de Paris, ca. 1893, Foto: Frédéric Jaulmes</p>

Bild: Evariste Carpentier, Promenade d’une famille dans les environs de Paris, ca. 1893, Foto: Frédéric Jaulmes

 

VILLEGGIATURA diskutiert Muster ruraler Gentrifizierung und fragt nach der Rolle, die zeitgenössische Kunst in diesen spielt. Verdrängungsprozesse unterscheiden sich von Stadt zu Stadt, von Region zu Region. Trotz aller Spezifitäten weisen jüngere Fälle von Land Grabbing jedoch Gemeinsamkeiten auf, die dabei helfen könnten, kollektive Lösungen zu finden. Wenn Kunst und Kultur einen Beitrag leisten können, wie könnte dieser aussehen – im Normalfall und im bestmöglichen Fall? VILLEGGIATURA beschäftigt sich sowohl mit historischen Entwicklungen als auch mit Strategien der Visualisierung, die bessere Modelle möglich werden lassen – technologisch, ideologisch und finanziell.

 

Obwohl viel auf dem Spiel steht, wissen die meisten Städter*innen mehr über Mietpreise in Kreuzberg als über den Ausverkauf Brandenburgs. Das Pastorale dient dem Urbanen schon seit jeher als identitätsstiftende Metapher. In der Renaissance bezeichnete Villeggiatura eine Sommerfrische im altrömischen Stil, einen Landsitz als neuzeitliches Arkadien. In einigen Gegenden lebt diese imperiale Nonchalance bis heute fort. Um genau diese Abstraktionen und die Infrastrukturen, die sie ermöglichen, geht es VILLEGGIATURA.

 

Dabei werden wir nicht in (Selbst-)Kritik verharren, sondern versuchen, zukunftsträchtige Modelle zu entwickeln: Wie kann die Stadt als größere Biosphäre und nicht nur als Insel in einem Meer schöner oder langweiliger Landschaften begriffen werden? Urbane Räume haben gegenüber ländlichen insofern einen Vorteil, als dass dortige Verdrängungsprozesse ein vieldiskutiertes Thema sind, das regelmäßig Schlagzeilen macht. Dies ist nicht zuletzt auf jene Netzwerke zurückzuführen, die Berlin und andere Metropolen zu Kampfplätzen um das „Recht auf Stadt“ gemacht haben. Die Nichtbeachtung ruraler Gentrifizierung im medialen Mainstream hat derweil komplexe Auswirkungen auf mit ihr verbundene Identitätskrisen und Heimatgefühle. Können aus politischen Gegensätzen zwischen Stadt und Land taktische Bündnisse geschmiedet werden?

 

Teilnehmende: Marwa Arsanios, Grace Blakeley, Marco Clausen, Simone Hain, Maria Hetzer, Wolfgang Kil, Suhail Malik, Jumana Manna, Bahar Noorizadeh, RIWAQ, Christopher Roth, Katya Sander, terra0, Axel Vogel, Marion von Osten und weitere

 

Kurator: Tirdad Zolghadr in Zusammenarbeit mit Marion von Osten
Kuratorische Assistenz: Sabrina Herrmann

 

Faltblatt zur Konferenz (PDF)

 

 

Programm

 

Samstag, 7. November 20

 

10.00–10.45 Uhr
Einführung von Tirdad Zolghadr und Marion von Osten
Was ist das Land von Marion von Osten, gelesen von Jeanne Tremsal

 

Marion von Osten
Landgrabbing (TBC)

 

Mit dem Einigungsvertrag von 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik erhielt die BRD das Recht, das Volkseigentum der DDR zu verkaufen. Die Bodenverwertungs und -verwaltungs GmbH (BVVG) – eine Nachfolgeinstitution der Treuhandanstalt – erfüllt seit ihrem Gründungsjahr 1992 den gesetzlichen Auftrag, in den Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ehemals enteignete, volkseigene land- und forstwirtschaftliche Flächen zu privatisieren. Durch diesen Ausverkauf landeten bereits zwei Millionen Hektar Felder und Wälder – fast ein Fünftel der Gesamtfläche der neuen Bundesländer – in einem Portfolio, das private Investor*innen und Großbetriebe anspricht. Bis 2017 wurden 861.400 Hektar landwirtschaftliche, rund 594.700 Hektar forstwirtschaftliche Flächen sowie ca. 81.100 Hektar als Umwidmungsflächen verkauft. Der gesamte Gewinn floss in die Staatskassen. Wem aber gehört das Land? Gerade die Geschichte Brandenburgs ist eng mit Landnahme, Kolonisierung und unterschiedlichen Bodenreformen verbunden. Die Ausweitung des Machteinflusses des Adels in dieser Region war das Ergebnis der im frühen Mittelalter begonnenen Kolonisierung der sogenannten ostelbischen Gebiete und der Verdrängung der slawischen Bevölkerung in die Gebiete jenseits der Oder, dem heutigen Polen. Mit der Kolonisierung und Christianisierung war die Inbesitznahme von Grund und Boden durch eine aufsteigende feudale Klasse verbunden. Dies schuf die Grundlage für den bis 1945 vorherrschenden Großgrundbesitz, der mitunter zur Leibeigenschaft führte.

 

Marion von Osten ist Ausstellungsmacherin, Forscherin und Künstlerin. Sie ist Gründungsmitglied der Kollektive Center for Postcolonial Knowledge and Culture (CPKC) und kleines postfordistisches Drama (kpD) in Berlin sowie des Designkollektivs Labor k3000 in Zürich (CH). Sie kuratierte und leitete Ausstellungs- und Forschungsprojekte wie bauhaus imaginista (2016–2020) mit Grant Watson, Viet Nam Discourse (2016–2018) mit Peter Spillmann, Aesthetics of Decolonization (2014–2016) mit dem Center for Post-colonial Knowledge and Culture u.v.a.m. Von Osten erwarb ihren PhD im Fach Kunst an der Kunstakademie der Universität Lund in Malmö (SE) bei Prof. Sarat Maharaj.

 

Tirdad Zolghadr ist Kurator und Schriftsteller. In seiner Funktion als assoziierter Kurator in den KW Institute for Contemporary Art kuratierte er in Zusammenarbeit mit Marion von Osten die Konferenz VILLEGGIATURA. Seit 2016 ist er künstlerischer Leiter der Sommerakademie Paul Klee, Bern. Seine kuratorischen Arbeiten umfassen ebenso Biennale-Beiträge wie forschungsbasierte Langzeitprojekte, zuletzt von 2016–2020 als Assoziierter Kurator in den KW Institute for Contemporary Art, Berlin. Zu seinen aktuellen kuratorischen Projekten zählt das Programm REALTY. Er ist Autor von Traction: An Applied and Polemical Attempt to Locate Contemporary Art (2016). Die Arbeit an seinem dritten Roman Headbanger wird von der Foundation for Arts Initiatives gefördert.

 

 

11.00–11.45 Uhr
Marco Clausen 
Das Land – zwischen pastoraler Idylle und Sacrifice Zone
Respondent: Wolfgang Kil

 

Parallel zu den insbesondere seit der globalen Finanzkrise explodierenden Miet- und Bodenpreisen in den Metropolen und den dadurch beförderten Verdrängungsprozessen findet gerade im Osten Deutschlands seit Jahren ein Ansturm auf Ackerböden statt. Trotz seiner weitreichenden Auswirkungen auf Ökosysteme und soziale Strukturen und des Erfolgs rechter populistischer Parteien geschieht dieses „Landgrabbing“ jedoch weitgehend unbeachtet von der öffentlichen Wahrnehmung. Durch die Privatisierungspolitik des vormals „volkseigenen“ Vermögens nach der „Wende“ trug der Staat wesentlich zu einer zunehmenden Konzentration des Landbesitzes in privater Hand bei. Eigentumsstrukturen und spekulativ angeheizte Preise machen eine kleinteilige, ökologische, naturnahe und regionale Landwirtschaft, die dem Bedürfnis eines nachhaltigen Konsums in den Innenstädten entsprechen würde, auf absehbare Zeit unmöglich. Wer heute „raus ins Grüne fährt“, um frische Luft und weite Aussichten zu genießen, der findet sich meist zwischen Maismonokulturen wieder, die von Lohnarbeiter*innen bewirtschaftet werden. Wird der Ruf nach „gutem“ Essen nicht von der Forderung nach einer Bodenreform, gerechten Arbeitsbedingungen und Einkommenschancen jenseits der auf fossilen Energieträgern, Pestizideinsatz und Flächensubventionen basierenden industriellen Landwirtschaft begleitet, so muss dieser ungehört in den Fichtenbaumplantagen verhallen.

 

Marco Clausen hat die Prinzessinnengärten in Berlin und die Nachbarschaftsakademie mitbegründet. Clausen arbeitet in Kooperation mit Initiativen, Aktivist*innen, Pädagog*innen und Künstler*innen an selbstorganisierten Formen politischer Bildung zu den Themen Recht auf Stadt, Stadt-Land-Beziehungen, Ernährungssouveränität, zukunftsfähige Stadtentwicklung, Resilienz, Gemeingüter und sozial-ökologische Transformation in lokaler und globaler Perspektive. Zudem hat er 2020 zusammen mit id 22 das Projekt kollektives lernen ins Leben gerufen. Parallel arbeitet Clausen am Projekthof Karnitz in Mecklenburg (DE) an politischen und kulturellen Programmen im ländlichen Raum.

 

Wolfgang Kil ist Architekturkritiker und Publizist. Nach seinem Studium der Architektur in Weimar war er unter anderem angestellter Architekt des damaligen VEB Wohnungsbaukombinat Ost-Berlin, Redakteur der Fachzeitschrift Farbe und Raum und seit 1990 Redakteur der Zeitschrift Bauwelt. Neben der Ostmoderne und dem Erbe des funktionalistischen Städtebaus beschäftigt er sich vorrangig mit den Auswirkungen der Globalisierung auf Städte (Schrumpfung) und Landschaften (sozialer Wandel, Energiewende).

 

 

12.30–13.15 Uhr
Simone Hain 
Eine Provinz im F r i e d e n erobert? Wie die Landnahme an Oder, Netze und Warthe einen Staat an den Abgrund trieb
Respondent: Wolfgang Kil

 

Der Beitrag erörtert an einem prominenten historischen Beispiel die sozialen Kämpfe und existentiellen Interessenskonflikte der preußischen Landgewinnung in den mitteleuropäischen „Amazonasgebieten“ zwischen Oder und Weichsel. Was in der „königstreuen“ deutschen Geschichtsschreibung bis heute als friedliche Besiedlungs- und Republierungsaktion nach dem Schlesischen Krieg gefeiert worden ist, hätte um ein Haar eine zerstörerische bürgerliche Revolution ausgelöst. Gestützt auf einen Quellenfund im Kulturhaus Rathenow (DE) untersucht Simone Hain entlang des Begriffs „Interesse“ die außerordentlich gewaltsame und opferreiche Kapitalisierung einer Urlandschaft, ihrer wendischen Dörfer und nachhaltig wirtschaftenden klösterlichen Ländereien. In der Universalgeschichte der Landschaft stellt dieser Vorgang eines der denkwürdigsten Kapitel dar. In der revolutionären Situation der 60er und 70er Jahre des 18. Jahrhunderts etablierte sich schließlich der Gedanke der staatlichen Sozialpflichtigkeit wie zweckbestimmenden Gemeinnützigkeit, als den Staat rettende, reformatorische Idee. Infolge der Krise wird das Abitur eingeführt und steigt Wissenschaftlichkeit zum obersten Paradigma der politischen Kultur auf. Es entsteht eine Ästhetik der Baukultur, die für die späteren Repräsentant*innen des Neuen Bauens einen ersten Schritt in die Moderne darstellt. Die viel gepriesene Architektur „um 1800“ stellt genau genommen ein behutsames Bauen aus dem Stoff und aus dem Bedürfnis des ländlichen Raumes dar. Im Zentrum des Vortrages steht der Hugenotte David Gilly aus Schwedt.

 

Simone Hain ist Kunsthistorikerin mit Spezialgebiet Stadt-, Bau- und Planungsgeschichte. Als Leiterin der Abteilung Theorie und Geschichte an der Bauakademie der DDR hatte sie maßgeblichen Anteil an der Neugründung des Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erker (DE), insbesondere der wissenschaftlichen Sammlungen zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR. Zusammen mit Hartmut Frank kuratierte sie die erste gesamtdeutsche architekturhistorische Retrospektive Zwei deutsche Architekturen 1949–1989, eine Wanderausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), die seit 2003 gezeigt wird. Hain lehrte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, an der HfBK Hamburg (DE), hatte an der Bauhaus-Universität Weimar (DE) die Gropius-Professur für Geschichte der modernen Architektur inne und leitete 2006–2016 das Institut für Stadt- und Baugeschichte an der TU Graz (AT). Sie ist freie Autorin und lebt in Berlin.

 

 

13.30–14.15 Uhr
Maria Hetzer
Utopie und Infrastruktur – historische Entwürfe und aktuelle Entwicklungen im ländlichen Brandenburg
Respondent: Wolfgang Kil

 

„Downsizen“, „co-worken“, Platz und fehlender Handyempfang – dafür wachsen der Kommune die reifen Gartenfrüchte in den Mund. Im medialen Diskurs geht der (Berliner) Traum vom besseren Leben und Arbeiten auf dem (Brandenburger) Land mit Warnungen über den Ausverkauf des ländlichen Raumes einher. Es geht um „Landgrabbing“, Artensterben und die Schreckensbilder ausgeräumter Landschaften, in denen das monokulturelle Wüten die natürlichen Ressourcen zu Strom und Zucker für die Umsetzung des Traums von einer digitalisierten, keimfreien Gesellschaft verarbeitet. Das Dorf trifft sich im Berufsverkehr auf der Straße nach Berlin. Trotzdem: Raumpionier*innen üben sich weiter im Neuerfinden postsozialistischer Ruinen einer überdimensionierten ländlichen Infrastruktur. Agrarmanager*innen bangen um ihre Fördermittel für schweinepestverseuchte, unbrauchbar gewordene Ackerflächen. Die Auswirkungen einer sozialistischen Bodenreform, die 1945 den Besitzlosen den Boden der Adelsangehörigen übergab, behindert heute die Ansiedlung kleiner Ökobetriebe, die von solidarischer Landwirtschaft und Artenvielfalt träumen. Niemand spricht mehr von der Angleichung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Stattdessen soll die Bürger*innengesellschaft der ehrenamtlich Partizipierenden Zukunftsgerechtigkeit herstellen. Dabei stehen konkrete Utopien neben realen Dystopien. Anhand von aktuellen Beispielen aus Brandenburg werden die Verschränkungen von historisch gewachsenen Infrastrukturen des Denkens und Handelns und aktuellen Perspektiven für den ländlichen Raum diskutiert.

 

Maria Hetzer ist Performanceforscherin und Kulturanthropologin. Sie hat zum Alltag im Kontext von 1989 und den Möglichkeiten transkultureller Übersetzung von Krisenerfahrung an der University of Warwick (GB) promoviert. Sie lebt dort, wo ihre Forschung angesiedelt ist. Forschungsschwerpunkte sind rurale Anthropologie, Alltag in Transformationsgesellschaften und (post-)sozialistischer „Osten“, auch wenn dieser mitunter auf dem afrikanischen Kontinent liegt.

 

 

14.30–15.15 Uhr
Khaldun Bshara 
RIWAQ Zentrum für Architekturerhalt
Respondent: Tirdad Zolghadr

 

Heutzutage ist es nicht leicht, das ländliche Palästina vom städtischen zu unterscheiden, da die gebaute und die ungebaute Umwelt aufgrund der rasanten Veränderungen ständig variiert. Dies ist nicht nur in Palästina der Fall. Vielmehr zeigt sich ein modernes Dilemma, das sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielt: Landwirt*innen werden „urbanisiert“ und von ihrem Land vertrieben. Die heute ländlichen Gebiete sind eine entfremdete Landschaft: Die Bewohner*innen tauschen ihre Arbeit in den aufstrebenden städtischen Zentren Palästinas (wie Ramallah) gegen Löhne ein und schwächen so die Beziehungen zu ihrem Land. Koloniale Enteignung, gepaart mit einer gleichgültigen Haltung der palästinensischen Behörden gegenüber der Bedeutung der Landwirtschaft innerhalb des Volkseinkommens, hat zu einer freien Marktwirtschaft geführt, die weder palästinensische Ernten schützt noch Investitionen anlockt. In dem Beitrag hebt Bshara die Rolle der Zivilgesellschaft und der lokalen Gemeinschaften hervor, um Alternativen und neue Möglichkeiten zur Entwicklung ländlicher Gebiete als Teil eines integrierten Ansatzes vorzuschlagen, der die Potenziale und Möglichkeiten der ländlichen Gebiete berücksichtigt.

 

Khaldun Bshara ist Architekt, Restaurator und promovierter Anthropologe. Er ist Direktor des Riwaq Centre in Ramallah (PS), wo er seit 1994 palästinensisches Architekturerbe dokumentiert, schützt und restauriert. Sein Gestaltungsansatz nutzt Architektur und architektonische Prozesse als Medien, um die architektonischen Möglichkeiten zur Aushandlung von Spannungen und Macht zwischen verschiedenen Akteuren vor Ort zu untersuchen und zu testen.

 

 

15.30–16.15 Uhr
Marwa Arsanios 
Wer hat Angst vor Ideologie?
Respondent: Tirdad Zolghadr

 

In dem Vortrag präsentiert Marwa Arsanios ihre Forschungen, die sie seit 2017 in unterschiedlichen Regionen wie Nordsyrien und Kolumbien geführt hat. Dort traf sie auf Frauenkommunen und feministische Kooperativen, die direkten Widerstand gegen die Enteignung von Land und Ressourcen leisten. Arsanios versucht, ihre Position als Künstlerin und Forscherin im Verhältnis zu deren Kampf zu formulieren – insbesondere zu den theoretischen und politischen Grundsätzen.

 

Marwa Arsanios ist Künstlerin, Filmemacherin und Forscherin. Sie betrachtet die Politiken der Mitte des 20. Jahrhunderts aus zeitgenössischer Perspektive und mit einem Fokus auf Geschlechterverhältnisse, Stadtplanung und Industrialisierung. Sie verfolgt einen kollaborativen und transdisziplinären Forschungsansatz.

 

 

17.00 Uhr
Filmvorführung Jumana Manna
Wild Relatives, 2018, 64 Min.

 

Unter dem arktischen Permafrost im „weltweiten Saatgut-Tresor“ in Spitzbergen lagern für den Fall einer Katastrophe Samen aus der ganzen Welt tief in der Erde. Der Film Wild Relatives basiert auf einem Ereignis, das weltweites Medieninteresse hervorgerufen hat: 2012 musste ein landwirtschaftliches Recherchezentrum aufgrund der Kriegszustände in Syrien von Aleppo in den Libanon umziehen. Dort begann ein mühsamer Prozess der Auspflanzung ihrer Saatgutsammlung aus den Ressourcen des Saatgut-Tresors. Auf dem Weg von der Arktis bis zum Libanon, zwischen diesen beiden entfernten Punkten der Erde, entfaltet sich in einer Reihe von Begegnungen eine Matrix menschlichen und nicht-menschlichen Lebens. Sie fängt die Verbindung zwischen dieser groß angelegten internationalen Initiative und ihrer lokalen Umsetzung im Bekaa-Tal des Libanon ein, die vor allem von jungen Migrantinnen durchgeführt wird. Die Reise dieses Saatguts und das meditative Tempo führen die Spannungen zwischen Staat und Individuum vor Augen, wie auch die Spannungen zwischen Klimawandel und biologischer Vielfalt sowie zwischen industriellen und organischen Ansätzen zur Rettung von Saatgut.

 

Jumana Manna widmet sich in ihrem bildhauerischen und filmischen Werk der Manifestation von Macht und ihrer Beziehung zu Materialien, Orten und dem menschlichen Körper. Neben abstrakten Skulpturen entwickelt die palästinensische Künstlerin filmische Erzählungen, die aus einer oft persönlichen Perspektive aktuelle Diskurse und politische Themen bearbeiten. Ihre Werke sind in der Regel das Ergebnis umfangreicher Forschungen. Sie vereinen Fakt und Fiktion, biografisches und archivarisches Material und erkunden mit wissenschaftlichen Methoden die Konstruktion von nationalen Erzählungen und Ideologien.

 

 

Sonntag, 8. November 20




10.00–10.10 Uhr
Einführung Tirdad Zolghadr

 

 

10.10–11.00 Uhr
Axel Vogel 
Brandenburg – mehr als ein Garten der Metropole?
Respondent: Wolfgang Kil

 

„Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“, schrieb schon Kurt Tucholsky in seinem Gedicht Das Ideal (1927). Aus ähnlich urbaner Perspektive erscheint Brandenburg vielen Städtern als „Garten der Metropole“ mit ausgezeichnetem Naherholungswert, als Anbauregion für die auf den Wochenmärkten erhältlichen Agrarprodukte und auch kulturell zunehmend attraktives Ziel. Weniger bekannt ist, dass auch Brandenburgs Agrarstrukturen massiven Konzentrationsprozessen unterliegen und der ländliche Nachbar mit negativen Auswirkungen auf Kulturlandschaft, Natur und das soziale Gefüge zu kämpfen hat. Ackerflächen sind seit der Finanzkrise und der damit einhergehenden Niedrigzinspolitik als Geldanlagen gefragt. Die große Nachfrage außerlandwirtschaftlicher Investor*innen auf die Äcker treibt Boden- und Pachtpreise in die Höhe und verschärft die Entwicklung zu immer größeren Betriebseinheiten und industrieller Landbewirtschaftung. „Landgrabbing“ ist damit nicht allein ein Thema für Länder des globalen Südens, sondern findet hier und heute vor der Haustür der Metropole Berlin statt.

 

Axel Vogel ist ein deutscher Politiker der Partei Die Grünen. Er war von 1985 bis 1987 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 2009 bis 2020 gehörte er dem Brandenburger Landtag an und war dort Vorsitzender der Grünen Landtagsfraktion. Er ist Minister für Landwirtschaft, Umwelt und Klimaschutz des Landes Brandenburg (DE).

 

 

11.15–12.00 Uhr
Grace Blakeley
Finanzialisierung – eine Einführung
Respondent: Suhail Malik

 

Die Finanzialisierung von Immobilien ist seit den 1980er Jahren zu einem herausragenden Merkmal vieler wohlhabender Volkswirtschaften geworden. Unter dem Regime des privatisierten Keynesianismus, der durch die weltweite Deregulierung der Finanzmärkte in den 1980er Jahren katalysiert wurde, ist ein zunehmender Anteil der Gesamtnachfrage auf die erleichterte Verfügbarkeit von Krediten für Haushalte – insbesondere Hypothekenkredite – angewiesen. Die Kosten für die Stützung der Ausgaben durch eine Lockerung der Kreditvergabe haben sich in Form von wachsender finanzieller Instabilität, zunehmender Schuldennot und wachsender Vermögensungleichheit bemerkbar gemacht. Die Finanzialisierung von Immobilien hat auch die Gentrifizierung begünstigt und Stadtlandschaften auf der ganzen Welt verändert, insbesondere in Städten wie London und New York, wo Immobilien „nur eine weitere Anlageklasse“ geworden sind. Seit der Finanzkrise hat sich dieses Modell auch in Regionen und ländlichen Gebieten zunehmend durchgesetzt, die zuvor von diesen Trends isoliert waren. Wie wird die COVID-19-Pandemie diese Trends beeinflussen? Und wie kann der Finanzialisierung von Immobilien und der damit einhergehenden Dominanz von Land durch wohlhabende Eliten begegnet werden?

 

Grace Blakeley ist Redaktionsmitglied des Magazins Tribune und Autorin von Stolen: How to Save the World from Financialisation (2019). Zuvor war sie Forschungsstipendiatin am Institute for Public Policy Research in London und Wirtschaftskommentatorin des New Statesman. Sie tritt regelmäßig in den Medien als Politik- und Wirtschaftskommentatorin auf, u.a. in Question Time, BBC This Week und BBC Breakfast.

 

Suhail Malik ist Co-Direktor der Fakultät Kunst des Goldsmiths College London, wo er Critical Studies lehrt. Zu seinen aktuellen und kommenden Veröffentlichungen als Autor zählen ContraContemporary: Modernity’s Unknown Future (2021) und The Ontology of Finance in Collapse 8: Casino Real (2014). Malik ist Mitherausgeber von The Flood of Rights (2017), der Spezialausgabe Art and Finance des Journals Finance and Society (2016), The Time-Complex. Postcontemporary (2016) und Realism Materialism Art (2015).

 

 

12.45–13.30 Uhr
Katya Sander 
Formen des Besitzers – eine Landschaftsstudie
Respondent: Suhail Malik

 

Die städtische Gentrifizierung wird durch die Veränderungen des umliegenden Landes in den letzten zwei Jahrzehnten in den Schatten gestellt. Die Grundstückspreise in Brandenburg sind beispielsweise explodiert, teilweise mit einem Anstieg um bis zu 500 Prozent. Die landwirtschaftlichen Betriebe werden nicht mehr von Landwirtschaftsfamilien geführt, wie weithin angenommen. Heute erwerben Investmentgesellschaften – zum Teil mit staatlicher Unterstützung – riesige Flächen, indem sie die ehemals kollektiv geführten ostdeutschen Betriebe aufkaufen und damit größer werden. In dem Maße, wie sich in Europa die Besitzverhältnisse bei landwirtschaftlichen Nutzflächen enorm verändern, interessieren sich immer mehr Stadtbewohner*innen für die politischen Implikationen der Nahrungsmittelproduktion. Da Konzentrationen von Landbesitz unter Investmentfirmen umstritten sind, werden ältere Eigentumsformen wiederentdeckt und neue Formen, Strukturen und Anwendungen von Agrarlandwirtschaft erforscht. Für VILLEGGIATURA stellt Katya Sander Forschungen für eine Landschaftsstudie vor, die sich auf die heutige Sichtbarkeit der Eigentumsmodalitäten in ländlichen Gebieten konzentriert.

 

Katya Sander ist Konzeptkünstlerin. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit der Produktion und Verbreitung sozialer Vorstellungen: Strukturen, Modelle und Bilder, durch die wir uns selbst und das, was wir tun können, imaginieren. Für Sander bedeutet das Imaginäre nicht nur subjektive Ideen, sondern auch kollektive Artikulationen und Projektionen dessen, was möglich ist, z.B. Arbeitsweisen, Formate und Institutionen, in denen wir uns als kollektive Körper verstehen und die Dinge, die dazu beitragen, diese zu erhalten (oder ihnen zu entfliehen). Sander veröffentlichte in verschiedenen Publikationen, gab Magazine und Publikationen heraus und ist zurzeit Professorin am Nordland Art and Film College auf den Lofoten (NO). Sie stellte u.a. auf der Documenta 12, Kassel (DE), in der Tate Modern, London, im Museum of Modern Art, New York und bei REDCAT, Los Angeles (US) aus. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

 

 

13.45–14.30 Uhr
Bahar Noorizadeh
Die Rote Stadt auf dem Planeten des Kapitalismus
Respondent: Suhail Malik

 

Als Teil der langfristigen Forschung von Bahar Noorizadeh über materielle Genealogien des Netzwerkdesigns greift dieser Vortrag Vorschläge kommunistischer Zersiedelung aus der Sowjetunion des Jahres 1929 auf. Ursprünglich von Michail Ochitowitsch und Moisej Ginzburg, Stadtplaner und Mitglieder der konstruktivistischen Architektengruppe OSA, entwickelt, wollte Disurbanism den Unterschied zwischen Stadt und Land beseitigen, indem er eine radikale Kritik der Urbanisierung vorschlug. Für Disurbanist*innen konnten die Krankheit der modernen Stadt und ihre unvermeidliche zentralisierte Hegemonie nur durch die Zerstörung der Stadt und ihre Verbreitung in der sowjetischen Landschaft gelöst werden. An ihre Stelle traten ein Energie- und Kommunikationsnetz: ein Netz aus Autobahnen, Infrastruktur, Wohnmobilen, natürlichen Ressourcen und öffentlichen Dienstleistungen in der Größenordnung der UdSSR. Der Disurbanismus wollte den Bestrebungen der Moderne entgegenwirken, die inneren Widersprüche des städtischen Umfelds zu lösen, indem das Ländliche in die Enge der Stadt gebracht wird.

 

Bahar Noorizadeh ist Filmemacherin, Autorin und Plattformentwicklerin. Sie arbeitet an der Umdeutung vorherrschender Zeitnarrative, die bei genauer Betrachtung in sich zusammenstürzen: philosophisch, finanziell, juristisch, zukunftsperspektivisch. Ihre Arbeiten wurden u.a. im Artists‘ Cinema Program der Tate Modern, London gezeigt, auf der Plattform dis.art, auf der Transmediale, Berlin und im Berlinale Forum Expanded. Noorizadeh ist Gründungsmitglied von BLOCC (Building Leverage over Creative Capitalism), einer Forschungsplattform, die Pädagogik als Strategie zur Veränderung der Beziehung zwischen zeitgenössischer Kunst und Stadterneuerung vorschlägt. Ihre derzeitige Forschung untersucht die Schnittstellen von Kapital, zeitgenössischer Kunst und neuen Technologien. Sie stützt sich dabei auf den Begriff der „Weird Economies“ (Seltsame Wirtschaftspraktiken), um den transdisziplinären Ansatz eines ökonomischen Futurismus und einer Vorstellungswelt jenseits des Finanzkapitalismus zu schaffen. Sie verfolgt diesen Ansatz als Doktorandin im Fach Kunst mit SSHRC-Promotionsstipendium am Goldsmiths College der Universität London.

 

 

14.45–15.30 Uhr
Paul Seidler 
terra0 – Eine Einführung
Respondent: Suhail Malik

 

Das Projekt terra0 umkreist die Themen Autonomie, Souveränität und Eigentum. Ein großer Teil des Anfangsimpulses geht auf die frühen „Smart Contracts“ und deren Verständnis als autonome Akteure zurück. Ein weiteres Hauptthema von terra0 ist der „europäische Wald“ als postaufklärerische Kulturlandschaft, die als Manifestation von Festkapital konzipiert ist. Vor diesem historischen Hintergrund werden unsere langfristigen künstlerischen Experimente zum forstlichen Utilitarismus präsentiert.

 

Paul Seidler lebt und arbeitet als Künstler und Programmierer in Berlin. Er ist einer der drei Mitbegründer von terra0 und baut derzeit Nascent auf, ein EXIT-Tech-Produktionsstudio, das kulturelle Einrichtungen berät. Seine Projekte und Texte wurden im Schinkel Pavillon, Berlin, am MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien, auf der Ars Electronica, Linz (AT), auf dem CTM Festival und der Transmediale, Berlin, der Dutch Design Week (NL), in der Furtherfield Gallery, London und auf ecocore gezeigt. Seine Arbeiten wurden von Wired, Forbes und Moneylab besprochen.

 

 

15.45–16.30 Uhr
Abschließende Diskussion

 

 

17.00 Uhr
Ausgewählte Filmbeiträge von Christopher Roth
REALTY-V, Architecting after Politics (2020 Fassung)

 

Parallel zum Konferenzwochenende sendet Christopher Roth auf dem TV Sender REALTY-V zusätzliches Bonusmaterial, u.a. aus seinen eigenen Arbeiten schöpfend. Als „friendly hack“ ist der Stream auf der Website der KW zu sehen. Thema ist die Geschichte und die politische Ästhetik gegenwärtiger „Landgrabs“. Über den gesamten November wird REALTY-V Ausschnitte, Zusammenfassungen und Aussagen der Symposiumsteilnehmer*innen ausstrahlen. 

 

Christopher Roth ist Filmemacher und Künstler. Er ist Mitkurator des Deutschen Pavillons der 17. Architekturbiennale in Venedig (IT). Seine Filme Legislating Architecture (2016) und The Property Drama (2017), gemeinsam mit dem Architekten Arno Brandlhuber, liefen auf den Architekturbiennalen in Venedig (2016) und Chicago (2017, US). Der dritte Teil Architecting after Politics folgte 2019. Sein Spielfilm Baader gewann den Alfred-Bauer-Preis der Berlinale 2002. Roth wird von der Galerie Esther Schipper vertreten und ist Dozent an der ETH Zürich (CH). Im März 2018 gingen drei kollaborative Web-TV-Kanäle unter dem Titel space-time.tv online: REALTY-V (mit Tirdad Zolghadr, KW Institute for Contemporary Art, Berlin), S+ (mit Arno Brandlhuber, ETH) und 42 (mit Fahrbereitschaft Berlin-Lichtenberg).

 

 

<p>VILLEGGIATURA wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. </p>

 

VILLEGGIATURA wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert. 

 

VILLEGGIATURA ist Teil des Programms REALTY, einem Projekt, das die Rolle zeitgenössischer Kunst in Entwicklungs-, Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen untersucht und Wege aufzeigt, diesen Prozessen mit den Mitteln der Kunst zu begegnen. Das Programm des im August 2017 ins Leben gerufenen Projekts umfasst eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen, ein Forschungsstipendium, den Online-TV-Kanal REALTY-V sowie Universitätsseminare, interne Arbeitsgruppen und mehrere künstlerische Auftragsarbeiten. REALTY wird von Tirdad Zolghadr kuratiert und von den KW Institute for Contemporary Art unterstützt.