Künstler Text
Win McCarthy
Innenportrait
25. Februar – 14. Mai 23
Kurator: Krist Gruijthuijsen
Assistenzkurator: Léon Kruijswijk
Kuratorische Assistenz: Linda Franken
Innenportrait
Win McCarthy
Bei näherer Betrachtung war auf dem Foto überhaupt kein Rand zu erkennen. Stattdessen ein sich ständig erweiterndes, die gesamte Fläche einnehmendes Feld. Es setzte sich einfach fort. Je länger man hinsah, desto mehr war auszumachen. Das Panorama war so gewaltig, so vollständig, dass alles abgebildet zu sein schien. Der Fokus war unendlich. Peripherie und Zentrum waren eins. Nichts wurde hervorgehoben, da war nur Ruhe, und dazu: widerhallender Einklang. Es gab keine Schärfentiefe, nur simultane Auflösung. Jede Farbe war gleichzeitig eine andere, verschieden und doch austauschbar. Und alle Beziehungsmöglichkeiten existierten nebeneinander: Groß war auch klein. Weit war auch schmal. Voll war auch leer. Und doch hatten diese annulierten Gegensätze etwas Natürliches. Sie fühlten sich selbstverständlich an, blieben sich treu, waren harmonisch, erdend. Denn, ja, in gewisser Weise war das eine Landschaft. Es musste eine sein, mit allem, was dazugehört. Da waren Individuen jeder Art und unendliche Kopien von ihnen, und alles glich sich. Die Fassade war dasselbe wie das Fundament. Die einfachsten Formen, die Bausteine, unterschieden sich nicht von den wildesten und prächtigsten Ornamenten. Doch wir, so seltsam es auch klingen mag, betrachteten all das ohne Gefühlsregung, denn, und das klingt vielleicht noch seltsamer, nichts auf diesem Foto mit all seinen unendlichen Dimensionen hatte irgendeine Bedeutung. Nichts konnte erkannt werden. Nichts benannt. Es war ein optisches Meisterwerk, in dem sich Licht und Schatten genau die Waage hielten. Und, noch seltsamer, auch wir, die wir es betrachteten, waren Teil dieses Bildes, nahtlos einbezogen wie alle anderen. Wir sahen als eins und als einzelne. Niemand existierte. Die Sicht war diffus. Augen wurden abgebildet, durchblickten aber nichts. Es gab kein Verstehen. Das musste so sein, denn nichts konnte unterschieden werden. Alle Möglichkeiten des Verstehens, die wir entwickelt hatten, alle Geräte, alle Methoden waren obsolet. Natürlich waren sie zu sehen, aber sie waren nicht von Nutzen. Es gab überhaupt keinen Nutzen, nur Sein. Worüber wir uns auch gewundert hatten, etwa darüber, ob alles einfach oder eher unendlich komplex sei, ob eine Linie ohne zwei Punkte existieren könne. Ob, ob, ob. Die Antwort war immer: „Gewiss.“ Wahr war falsch. Alles war gleichzeitig. Und unsere Füße unterschieden sich nicht vom Boden, und so ging es immer, immer weiter, die Einheit, das Einssein, der Frieden, immer weiter und weiter, aber das bedeutete nicht, dass es keinen Grund gab, hinzusehen oder nicht hinzusehen. Dies war ein Foto.
Künstlerbiografie
Win McCarthy (* 1986, USA) lebt und arbeitet in Brooklyn, NY. Seine Arbeit umfasst Installation, Fotografie und Skulptur und wird oft von einem umfangreichen Schreibprozess begleitet. McCarthy hatte Einzelausstellungen in der Galerie Neu, Berlin (2021), bei Atlantis, Marseille, und Svetlana, New York (beide 2019); in der Galerie Fons Welters, Amsterdam (2018); bei Silberkuppe, Berlin (2017), und Off Vendome, Düsseldorf (2013). Darüber hinaus nahm er an einer Reihe von Gruppenausstellungen teil, darunter an I think I Look More like the Chrysler Building, Vleeshal Zentrum für zeitgenössische Kunst, Middelburg (2021); Haunted Haus, Swiss Institute, New York (2020); Trouble in Paradise. Collection Rattan Chadha, Kunsthal Rotterdam (2019); Mirror Cells, Whitney Museum of American Art, New York (2016); Takashi Murakamis Superflat, Yokohama Museum of Art (2016), und Puddle, pothole, porthole, SculptureCenter, New York (2014).
Impressum
Kurator: Krist Gruijthuijsen
Assistenzkurator: Léon Kruijswijk
Kuratorische Assistenz: Linda Franken
Produktionsleitung: Claire Spilker
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbau: KW Aufbauteam
Registrarin: Monika Grzymislawska
Assistenzregistrarin: Carlotta Gonindard Liebe
Leitung Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano
Programmkoordinator und Outreach: Nikolas Brummer
Presse und Kommunikation: Anna Falck-Ytter, Marie Kube
Text und Redaktion: Win McCarthy
Übersetzung und Lektorat: Hans Georg Hiller von Gaertringen, Sabine Weier
Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble
Praktikant*innen: Marie Hütter, Janika Jähnisch, Gina Ruhlandt, Antoine Schalk, Carla Veit