Kuratorischer Text
KW Production Series:
Emily Wardill
Identical
10. Juni – 20. August 23

 

Kurator*in: Mason Leaver-Yap

Kuratorische Assistenz: Linda Franken

 

KW Studio über Emily Wardill mit Mason Leaver-Yap und Linda Franken. Produktion: LOCOLOR, Realisation & Producer: Vincent Schaack, Kamera: Vincent Schaack, Adrian Nehm, Alejandro Mancera, Editing & Color Grading: Lia Valero

 

 

Der Film Identical (2023) von Emily Wardill beginnt mit etwas Einfachem, Elementarem: dem faszinierenden Spiel von Licht auf Wasser. Die ersten Sekunden des Films zeigen den Augenblick, in dem das eine das andere bricht, reflektiert und verzerrt – und dadurch anders wahrgenommen wird. Diese diamanten glitzernden Spiegelungen sind auf zwei Bildschirmen gleichzeitig zu sehen. Dabei sind die Bilder zunächst nicht voneinander zu unterscheiden, bis sich der Fokus des Lichts vom Wasser auf etwas Festes, von der Abstraktion zur Figuration verschiebt und ein glänzender Körper zum Vorschein kommt, der sich dreht und verändert. Diese hypnotische Anfangssequenz kehrt in Identical mehrfach wieder und bringt direkt zum Ausdruck, worum es in der Installation geht: um Aufspaltung und Ausweitung und darum, wie sich verändernde Darstellungen auf unser Verständnis des Geschehens auswirken.

 

<p>Emily Wardill, <em>Identical</em>, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer</p>

Emily Wardill, Identical, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer

 

Wie bei der Entstehung allen zellulären Lebens geschieht „Aufspaltung“ nie nur auf einer einzigen Ebene. In Identical vollzieht sich die Teilung zweier Dinge auf sozialer, historischer und kultureller Ebene in potenziell doppelzüngiger Weise. Während der 16 Minuten, die die Installation auf zwei parallellaufenden Kanälen dauert, wird man von dem beklemmend-instinktiven Gefühl beschlichen, dass etwas nicht stimmt. Und tatsächlich bezeichnet Wardill selbst Identical als ein Werk voller Täuschung und Verführung, voller gaslighting und Desorientierung – schier sinnesüberwältigend. Während das Drama auf den Bildschirmen in Hotelzimmern und Korridoren, im Spitzensport und in der Freizeit seinen Lauf nimmt, schwillt in der Tonspur von Identical eine einzelne Gesangsstimme zu einem ganzen Chor an (der nach dem Prinzip der Fibonacci-Folge immer zahlreicher wird). Auch die Zeitebenen sind verzerrt: Kinder tun so, als wären sie erwachsen, während Erwachsene nur noch die Bewegungen aufblasbarer Roboter nachäffen oder mit ikonischen Momenten der Musik und des Films des 20. Jahrhunderts zusammengeschnitten werden. In den Filmcredits sind die Titel oft wörtliche Kommentare zu dem, was auf den Bildschirmen gezeigt und gesagt wird: Donʼt Look Now (Schau jetzt nicht hin), Sign Oʼ The Times (Zeichen der Zeit), First Time Ever I Saw Your Face (Das erste Mal, dass ich dein Gesicht sah), Tomorrow Never Knows (Niemand weiß, was morgen sein wird), um nur einige Beispiele aus Identical zu nennen.

 

<p>Emily Wardill, <em>Identical</em>, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer</p>

Emily Wardill, Identical, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer

 

Seit über 15 Jahren befasst sich Wardill mit imagined images (imaginierten Bildern): mit der Frage, was das ist, wofür sie verwendet wurden und welche Spuren sich in der Gegenwart von ihnen finden. Bei ihren frühesten Arbeiten ging es um farbige Glasfenster als mittelalterliches Kommunikationsmittel für Menschen, die des Lesens und Schreibens nicht kundig waren. In ihrem neueren Film Night for Day (2020) hingegen kehrte sie das titelgebende filmtechnische Verfahren der inversen Lichtsimulation mit dem Ziel um, technisch vermitteltes Sehen, Genderperformanz und imaginäre Utopien zu reflektieren. Wardills Filme evozieren neben Träumen und Abgründen der Populärkultur auch falsch erinnerte Geschichten und reihen die Geister, die sich in unsere persönlichen Erfahrungen einschleichen und soziale Beziehungen prägen, geschickt aneinander.

 

In Identical gehen die Erkundungen der Künstlerin über das imaginäre Bild hinaus, um eine Vielzahl von Sinneseindrücken voneinander abzugrenzen: was man sieht von dem, was man fühlt, und auch was erzählt wird von dem, was man hört und schlussfolgert. Wardill versucht das Gefühl der Desorientierung beim Betrachten von Identical zu ergründen, indem sie Gegensätzliches auf schwindelerregende Weise aufeinanderprallen lässt: links und rechts, Gewinner*innen und Verlierer*innen, Komödie und Tragödie, Proben und Erinnerung, oben und unten. Und die ganze Zeit über ertönt ein vertrauter Trommelschlag, der wie ein akustisches Lasso durch den Ausstellungsraum schwingt.

 

Der Künstlerin geht es nicht darum, dass Identical entschlüsselt oder auf die zahlreichen kulturellen Bezüge reduziert wird. Stattdessen ruft ihre Arbeit komplexe Narrative in Erinnerung, wenn sie zum Beispiel die Vertuschung einer gewalttätigen Vergangenheit andeutet (durch Bilder von nicht gekennzeichneten Massengräbern versklavter Menschen, die im portugiesischen Lagos auf dem Gelände eines Minigolfplatzes gefunden wurden) oder das schwindelerregende Gefühl auslöst, im Galerieraum selbst überwältigt zu werden.

 

<p>Emily Wardill, <em>Identical</em>, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer</p>

Emily Wardill, Identical, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer

 

„Die Form spricht zu dir“, sagt Wardill und verweist damit auf den Bezug von Identical zum „Expanded Cinema“, einer multimedialen Kunstform, die in den 1960er- und 1970er-Jahren entstand. Jenes Expanded Cinema war ein Vorläufer der heutigen Netzwerkkultur, das formale Elemente der Seherfahrungen in Kino und Fernsehen analysierte und sich mit Theorien eines bewusstseinserweiternden, ego-losen Geisteszustands beschäftigte. „Das Expanded Cinema wollte nicht zuletzt auf Strukturen aufmerksam machen“, sagt die Künstlerin, „die Struktur des Blicks, die den einen aktiv und den anderen passiv sein lässt, so wie wohlmeinende Erzählungen, die verbergen, wovon wir nichts erfahren sollen.“

 

Wardill wirft mit ihrer Arbeit die Frage auf, ob das Expanded Cinema verändert werden kann – und zwar in einer Weise, dass es unsere Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Orientierungslosigkeit unserer Zeit lenkt und ihr zugleich entgegentritt, analog zu der Wassersequenz am Beginn von Identical, wo zwei Dinge sich gegenseitig beleuchten und verzerren. Darüber hinaus zeigt die Installation, dass sich Gewalt stets ebenso nach innen wie nach außen richtet. Obwohl nie explizit gezeigt, ziehen sich Andeutungen physischer Angriffe – auf Kopf, Gliedmaßen und Rumpf – ebenso durch das Werk wie visuelle Hinweise auf Blut und Knochen. Währenddessen sind Stimmen zu hören, die die traumatische Erfahrung eines Gedächtnisverlusts beschreiben.

 

Identical zeigt in einer Sequenz, wie sich ein Elefant mit den Knochen seiner Vorfahren beschäftigt (die Wissenschaft vermutet, dass es sich dabei um eine tierische Form der Trauer handelt). Diese Verhaltensweise stellt die Künstlerin menschlichen Händen gegenüber, die gleichgültig mit in 3D-Druck hergestellten Knochen spielen und diese zusammensetzen. Bei diesem Vergleich geht es um Assoziation und Dissoziation, Verbindung und Trennung. Indem sie beide Zustände kombiniert, versucht Wardill, einen anderen Raum zu kreieren – eine vielstimmige Erfahrung, die sich weigert, nur das eine oder das andere zu sein.

 

– Mason Leaver-Yap

 

<p>Emily Wardill, <em>Identical</em>, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer</p>

Emily Wardill, Identical, 2023, Videoinstallation. Courtesy Carlier Gebauer

 

Künstlerinbiografie

 

Emily Wardil lebt und arbeitet in Lissabon, Portugal. Ihre Arbeiten wurden in der Secession in Wien, im SMK in Kopenhagen, im de Appel arts centre in Amsterdam, auf der Biennale of Moving Images in Genf, in der Serpentine Gallery und im MUMOK in Wien ausgestellt. Sie wurde 2010 mit dem Jarman Award, 2011 mit dem Leverhulme Award und 2021 mit dem EMAF Award ausgezeichnet. Wardill nahm an der 54. Biennale von Venedig, der 19. Biennale von Sydney und GHOST 2565 im Jahr 2022 teil.

 

Ihre künstlerische Praxis ging stets mit verschiedenen Lehrtätigkeiten einher. Sie hat an der Malmöer Kunstakademie, der University of British Columbia, dem Central Saint Martins, der School of the Art Institute Chicago, der Städelschule, der Goldsmiths University und dem CCA San Francisco gearbeitet. Derzeit promoviert Emily Wardill an der Malmöer Kunstakademie, Schweden.

 

Impressum

 

Kurator: Mason Leaver-Yap
Assistenzkuratorin: Linda Franken
Produktionsleitung: Mathias Wölfing, Claire Spilker (in Elternzeit)
Technische Leitung: Wilken Schade
Leitung Aufbauteam, Medientechnik: Markus Krieger
Aufbau: KW Aufbauteam
Registrarin: Monika Grzymislawska
Assistenzregistrarin: Carlotta Gonindard Liebe
Leitung Bildung und Vermittlung: Laura Hummernbrum, Alexia Manzano (in Elternzeit)
Programmkoordinator und Outreach: Nikolas Brummer
Presse und Kommunikation: Anna Falck-Ytter, Marie Kube

Assistenz Presse und Kommunikation: Luisa Schmoock
Text und Redaktion: Mason Leaver-Yap
Übersetzung und Lektorat: Dr. Sylvia Zirden, Katrin und Hans Georg Hiller von Gaertringen Wissenschaftliches Volontariat: Lara Scherrieble
Praktikantinnen: Isabella de Arruda Ilg, Pia Gottschalk, Marie Hütter, Teresa Millich

 

<p>In Partnerschaft mit der Calouste-Gulbenkian-Stiftung im Rahmen des Programms PARTENARIATS GULBENKIAN zur Unterstützung portugiesischer Kunst in europäischen Kunstinstitutionen</p>

 

In Partnerschaft mit der Calouste-Gulbenkian-Stiftung im Rahmen des Programms PARTENARIATS GULBENKIAN zur Unterstützung portugiesischer Kunst in europäischen Kunstinstitutionen

 

<p>Medienpartner: gallerytalk.net</p>

 

Medienpartner: gallerytalk.net